Kaye fragte sich, ob Mitch wohl in die Krawalle geraten war und ob es ihm gut ging.
Mark Augustine kam ins Zimmer. Langsam wurde es eng. Die Luft war stickig und warm. Augustine nickte in Dickens Richtung und lächelte Kaye freundlich zu. Er wirkte ruhig und konzentriert, aber irgendetwas in seinem Blick strafte die Fassade Lügen.
»Sehr gut!«, dröhnte Cross. »Dann haben wir die Bande ja zusammen. Mark, was ist los?«
»Richard Bragg ist vor zwei Stunden in Berkeley erschossen worden«, sagte Augustine. »Er war mit seinem Hund spazieren.«
Augustine legte den Kopf schief, presste die Lippen zusammen und warf Kaye einen gequälten Blick zu.
»Bragg?«, fragte jemand.
»Der Idiot mit dem Patent«, erwiderte ein anderer.
Cross erhob sich vom Bett und wandte sich an Augustine. »Hat es etwas mit der Nachricht über das Baby zu tun?«
»Das könnte man annehmen. Irgendjemand in dem Krankenhaus in Mexico City hat es ausgeplaudert. La Prensa berichtet, das Baby sei schwer missgebildet gewesen. Heute Morgen um sechs kam es auf allen Kanälen.«
Kaye wandte sich zu Dicken. »Tot geboren«, sagte er.
Augustine zeigte zum Fenster. »Das wäre eine Erklärung für den Aufruhr. Es sollte eigentlich eine friedliche Demonstration werden.«
»Dann also los«, sagte Cross aufgeräumt. »Es gibt eine Menge zu tun.«
Als sie zum Aufzug gingen, sah Dicken niedergeschlagen aus.
Halblaut sagte er zu Kaye: »Den Zoo vergessen wir besser.«
»Unsere Unterhaltung?«
»Es war voreilig. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, wo man sich aus dem Fenster hängen sollte.«
Mitch ging die trümmerübersäte Straße entlang. Unter seinen Stiefelsohlen knirschten Glasscherben. Die gelben Markierungsbänder von Polizeiabsperrungen zogen sich um die Haupteingänge des Kongresszentrums und dreier Hotels. Umgekippte Autos waren wie Geschenke mit gelben Bändern umwickelt. Auf Fahrbahn und Bürgersteigen lagen Spruchbänder und Transparente. Immer noch roch es nach Tränengas und Rauch. Polizeibeamte in hautengen, dunkelgrünen Hosen und Khakihemden sowie Nationalgardisten im Tarnanzug säumten mit verschränkten Armen die Straße, während städtische Beamte aus Kleinbussen stiegen und den Schaden besichtigten. Die wenigen nichtoffiziellen Zaungäste wurden von Polizisten mit dunkler Brille lautlosbedrohlich beobachtet.
Mitch hatte versucht, wieder in sein Zimmer im Holiday Inn zu gelangen, aber irgendwelche unglückseligen Angestellte des Hotels hatten ihn im Auftrag der Polizei abgewiesen. Sein Gepäck — eine Reisetasche — stand noch in seinem Zimmer, aber die Aktentasche hatte er bei sich, und nur die war ihm wirklich wichtig. Er hatte Nachrichten für Kaye und Dicken hinterlassen, aber es gab keine feste Stelle, an der sie ihn zurückrufen konnten.
Die Tagung war offenbar zu Ende. Die Hotelgaragen spuckten Dutzende von Autos aus, und ein paar Häuserblocks weiter südlich warteten lange Reihen von Taxis auf Fahrgäste mit Rollenkoffern.
Mitch konnte seine eigenen Gefühle nicht genau dingfest machen. Wut, Adrenalinstöße, eine bittere Welle der klammheimlichen Freude über die Schäden — typische Begleiterscheinungen, wenn man dem gewalttätigen Mob so nahe ist. Scham, die einzige dünne Schutzschicht über dem Furnier der Gesellschaft; seit der Nachricht von dem toten Baby auch Schuldgefühle, weil er vielleicht so falsch gelegen hatte. Und inmitten dieser aufblitzenden Emotionen empfand Mitch am stechendsten ein scheußliches Gefühl des Vertriebenseins. Einsamkeit.
Was er an diesem Morgen und Nachmittag am meisten bedauerte, war das verpasste Frühstück mit Kaye Lang.
Sie hatte in der Nachtluft so gut geduftet. Kein Parfüm, frisch gewaschene Haare, glatte Haut, der Atem mit dem Geruch nach Wein, aber nicht unangenehm, sondern blumig. Der Blick ein wenig benommen, ihr Abschiedsgruß herzlich und erschöpft.
Mit einer Deutlichkeit, die eher Erinnerung als Fantasie war, konnte er sich ausmalen, wie er neben ihr in einem Hotelbett lag.
Erinnerungen an die Zukunft.
In seiner Jackentasche tastete er nach den Flugtickets, die er immer bei sich trug.
Dicken und Kaye stellten einen Rettungsanker dar, einen neuen Sinn in seinem Leben. Irgendwie hatte er Zweifel, ob Dicken etwas für die Fortsetzung dieser Beziehung tun würde. Dicken war ihm nicht unsympathisch; der Virusjäger erschien ihm ehrlich und scharfsinnig. Mitch hätte gerne mit ihm zusammengearbeitet und ihn besser kennen gelernt, aber das konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Man mochte es Instinkt nennen, aber eher war es eine auf die Zukunft gerichtete Erinnerung an …
… Rivalität.
Er setzte sich auf eine niedrige Betonmauer gegenüber dem SerranoHotel und hielt seine Aktentasche mit beiden Pranken fest.
Er versuchte, sich jene Geduld zu eigen zu machen, mit der er auch die langen, umständlichen Grabungen in der Gesellschaft unzufriedener Postdocs überstanden hatte.
Plötzlich sah er eine Frau im blauen Kostüm aus der Lobby des Serrano kommen. Sie blieb im Schatten kurz stehen und sprach mit den beiden Türstehern und einem Polizisten. Es war Kaye.
Mitch ging langsam über die Straße und ging um einen Toyota mit eingeschlagenen Scheiben herum. Kaye sah ihn und winkte.
Sie trafen sich auf dem freien Platz vor dem Hotel. Kaye hatte Ringe unter den Augen.
»Das war ja schrecklich«, sagte sie.
»Ich war hier draußen und habe alles gesehen«, erwiderte Mitch.
»Wir schalten jetzt einen Gang rauf. Ich mache ein paar Fernsehinterviews, und dann fliegen wir wieder nach Washington. Es muss eine Untersuchung geben.«
»Und alles nur wegen dieses ersten Babys?«
Kaye nickte. »Vor einer Stunde haben wir Näheres erfahren. Die NIH haben eine Frau überwacht, die sich vor einem Jahr die Herodes-Grippe zugezogen hatte. Sie bekam die Fehlgeburt mit der Zwischentochter, und einen Monat später war sie wieder schwanger. Das Baby brachte sie einen Monat zu früh zur Welt, und es ist tot. Schwere Fehlbildungen. Anscheinend Zyklozephalie.«
»Du liebe Güte«, sagte Mitch.
»Augustine und Cross … nun ja, darüber darf ich nicht reden.
Aber es sieht so aus, als müssten wir alle Planungen umschmeißen und vielleicht sogar für die Erprobung am Menschen einen verkürzten Zeitplan aufstellen. Der Kongress schreit Zeter und Mordio und zeigt mit dem Finger auf alle und jeden. Es ist ein riesiger Schlamassel.«
»Klar. Was können wir tun?«
»Wir?« Kaye schüttelte den Kopf. »Was wir im Zoo besprochen haben, erscheint jetzt nicht mehr besonders sinnvoll.«
»Warum nicht?«, fragte Mitch und schluckte.
»Dicken hat eine Kehrtwendung gemacht.«
»Was für eine Kehrtwendung?«
»Er ist völlig fertig und glaubt, wir lägen ganz und gar daneben.«
Mitch legte den Kopf auf die Seite und runzelte die Stirn. »Das sehe ich nicht so.«
»Vielleicht geht es dabei mehr um Politik als um Wissenschaft.«
»Aber wo bleibt dann die Wissenschaft?«, wandte Mitch ein.
»Soll eine einzige Frühgeburt, ein einziges fehlgebildetes Baby …«
»… uns mundtot machen?«, vollendete Kaye seinen Satz. »Vermutlich schon. Ich weiß es nicht.« Sie ließ den Blick über die Straße schweifen.
»Gehen noch andere Schwangerschaften dem Ende entgegen?«, wollte Mitch wissen.
»Erst in ein paar Monaten«, erwiderte Kaye. »Die meisten Eltern haben sich zur Abtreibung entschlossen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Es wird nicht viel darüber geredet. Die beteiligten Institutionen nennen keine Namen. Sie können sich ja sicher vorstellen, dass es viele Gegner auf den Plan rufen würde.«
»Was halten Sie davon?«
Kaye legte sich die Hand auf das Herz und dann auf die Magengegend. »Ich fühle mich, als hätte mir jemand einen Tiefschlag versetzt. Ich brauche Zeit, um über alles nachzudenken und noch ein paar Untersuchungen anzustellen. Übrigens habe ich Dicken gefragt, aber er hat mir Ihre Telefonnummer nicht gegeben.«