»Ist er intelligent?«
»Durchaus. Vielleicht sogar sehr intelligent. Ich weiß es nicht; ich war nur ein paar Stunden mit ihm zusammen.«
»Dann solltest du fahren, damit du erfährst, was er weiß. Übrigens liegt es näher bei Albany.«
»Stimmt. Normalerweise würde ich meine kleine Tasche packen und mich in den nächsten Zug setzen.«
Kaye goss Milch in ihre Schale. »Aber?«
»Ich kann nicht einfach lieben und dann weglaufen. Die nächsten Wochen möchte ich mit dir verbringen, und zwar ohne Unterbrechung. Nie von deiner Seite weichen.« Er streckte den Hals und kratzte sich. Kaye half ihm dabei. »Klingt nach Klette«, sagte er.
»Ich will, dass du wie eine Klette an mir hängst«, sagte sie. »Mir ist sehr danach, dich zu vereinnahmen und zu beschützen.«
»Ich kann Merton anrufen und absagen.«
»Das wirst du nicht tun.« Sie küsste ihn heftig und biss ihm in die Lippe. »Du wirst sicher Erstaunliches zu berichten haben. Ich habe letzte Nacht viel nachgedacht, und jetzt liegt jede Menge ganz gezielter Arbeit vor mir. Wenn ich damit fertig bin, habe ich dir wahrscheinlich Erstaunliches zu berichten, Mitch.«
53
Washington, D. C.
Augustine joggte forsch parallel zur Capitol Mall auf dem Fußweg unter den Kirschbäumen, die gerade ihre letzten Blütenblätter fallen ließen. In stetigem Trab folgte ihm ein Sicherheitsbeamter im dunkelblauen Anzug, der sich hin und wieder kurz umwandte, um den Weg hinter ihnen zu überblicken.
Dicken wartete mit den Händen in den Jackentaschen, bis Augustine herangekommen war. Eine Stunde zuvor war er von Bethesda hierher gefahren und hatte dabei tapfer den Berufsverkehr durchgestanden, jenes schleichende Übel, gegen das er eine fast wütende Abneigung hegte. Augustine hielt neben ihm an und lief weiter auf der Stelle, wobei er die Arme ausstreckte.
»Guten Morgen, Christopher«, sagte er. »Sie sollten auch öfter joggen.«
»Ich bin gerne dick«, erwiderte Dicken; sein Gesicht nahm Farbe an.
»Niemand ist gerne dick.«
»Na ja, dann bin ich eben nicht dick. Was sind wir heute, Mark?
Geheimagenten? Informanten?« Er fragte sich, warum man ihm noch keinen Leibwächter zugeteilt hatte. Es musste wohl daran liegen, dass er noch keine Person des öffentlichen Lebens war.
»Blöde Fachleute für Schadensbegrenzung«, sagte Augustine.
»Ein Mann namens Mitchell Rafelson ist über Nacht bei der lieben Ms. Kaye Lang in ihrer hübschen Wohnung in Baltimore geblieben.«
Dicken erbleichte.
»Sie sind mit den beiden im Zoo von San Diego herumgelaufen.
Haben ihm Zutritt zu der geschlossenen Gesellschaft bei Americol verschafft. Alles sehr gesellig. Haben Sie die beiden miteinander bekannt gemacht, Christopher?«
»Sozusagen.« Dicken war selbst überrascht, wie mies er sich fühlte.
»Das war unklug. Kennen Sie seine Vergangenheit?«, fragte Augustine spitz. »Der Leichenräuber aus den Alpen? Der Mann ist ein Spinner.«
»Ich dachte, er könnte nützlich sein.«
»Wessen Ansicht sollte er in dem ganzen Durcheinander unterstützen?«
»Eine durchaus vertretbare Ansicht«, erwiderte Dicken unbestimmt und blickte zur Seite. Es war ein kühler, angenehmer Morgen, und auf der Mall waren eine ganze Reihe Jogger unterwegs, die sich an der frischen Luft ein wenig bewegen wollten, bevor sie sich in ihren Behördenbüros einigelten.
»Die Sache stinkt. Das Ganze sieht nach einem Ablenkungsmanöver aus, mit dem sich die Stoßrichtung des ganzen Projekts verändert, und das macht mir Sorgen.«
»Wir waren zu einer Sichtweise gelangt, Mark. Zu einer durchaus vertretbaren Sichtweise.«
»Marge Cross hat mir erzählt, es würde über Evolution geredet«, sagte Augustine.
»Kaye hat eine Begründung zusammengebastelt, in der Evolution vorkommt«, bestätigte Dicken. »Sie hat alles in ihren Artikeln vorausgesagt — und Mitch Rafelson hat ebenfalls ein bisschen in dieser Richtung geforscht.«
»Marge ist überzeugt, dass es schlimme Folgen hat, wenn diese Theorie an die Öffentlichkeit gelangt«, sagte Augustine. Er hörte mit den windmühlenartigen Armbewegungen auf und machte Dehnübungen für den Hals: Eine Hand griff nach dem anderen Oberarm und übte Zug aus; gleichzeitig blickte er an dem gestreckten Arm entlang, den er so weit wie möglich nach hinten zog. »Es gibt keinen Anlass, es so weit kommen zu lassen. Ich werde der Sache sofort ein Ende machen. Heute morgen habe ich einen Vorabdruck aus dem PaulEhrlichInstitut in Deutschland bekommen. Dort haben sie mutierte Formen von SHEVA gefunden. Und zwar mehrere. Krankheitserreger mutieren, Christopher.
Wir müssen die Impfstofferprobung einstellen und wieder ganz von vorn anfangen. Das lenkt alle Hoffnungen in eine wirklich üble Richtung. Einen solchen Aufruhr werde ich beruflich nicht überleben.«
Dicken sah zu, wie Augustine auf der Stelle tänzelte und von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Schließlich blieb er stehen und holte tief Luft. »Morgen werden auf der Mall wahrscheinlich zwanzig- oder dreißigtausend Menschen demonstrieren. Irgendjemand hat einen Bericht der Taskforce über die Befunde mit RU-486 durchsickern lassen.«
Dicken spürte, wie sich in ihm etwas zusammenkrampfte, wie es in seinem Inneren einen kleinen Knall gab wegen der Enttäuschung über Kaye auf der einen Seite und seine bisherige Arbeit auf der anderen. Er hatte seine Zeit völlig vergeudet. Wie er mit seiner Theorie einen Boten erklären sollte, der mutiert und damit seine Botschaft verändert, konnte er nicht erkennen. Kein biologisches System würde seinen Nachrichtenübermittlungsmechanismen eine solche Kontrolle erlauben.
Er hatte Unrecht gehabt. Kaye Lang hatte Unrecht gehabt.
Der Leibwächter zeigte auf seine Armbanduhr, aber Augustine verzog das Gesicht und schüttelte genervt den Kopf.
»Erzählen Sie mir mehr darüber, Christopher«, sagte er, »dann überlege ich mir, ob ich Sie diese blöde Arbeit weitermachen lasse.«
54
Baltimore
Mit unerschütterlichem Selbstvertrauen ging Kaye zu Fuß von ihrer Wohnung zu Americol. Sie blickte am BromoSeltzer Tower empor — er wurde so genannt, weil früher eine riesige blaue Arzneiflasche auf seinem Dach gestanden hatte. Heute war nur noch der Name übrig; die Flasche hatte man schon vor Jahrzehnten entfernt.
Mitch ging ihr nicht aus dem Kopf, aber seltsamerweise war er keine Ablenkung. Ihre Gedanken waren sehr konzentriert, und sie hatte jetzt eine viel klarere Vorstellung von dem, was sie suchte.
Während sie die Fußwege zwischen den Gebäuden entlangging, freute sie sich über das Spiel von Sonne und Schatten. Es war ein so schöner Tag, dass sie den stets gegenwärtigen Benson fast vergessen konnte. Er begleitete sie wie immer zur Laboretage und blieb dann zwischen Aufzug und Treppe stehen, sodass niemand seinem prüfenden Blick entgehen konnte.
Kaye betrat ihr Labor und hängte Handtasche und Mantel an ein Trockengestell für Glasgeräte. Im Nachbarraum werteten fünf ihrer sechs Assistentinnen die Elektrophoresegele der letzten Nacht aus. Sie war froh, ein wenig allein zu sein.
Sie setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und holte sich das AmericolIntranet auf den Bildschirm. Ein paar Sekunden später hatte sie sich von der Eröffnungsseite zum firmeneigenen HumanGenomProjekt durchgeklickt. Es war eine hervorragend aufgebaute Datenbank, in der man leicht recherchieren konnte; wichtige Gene waren benannt, ihre Funktionen waren gekennzeichnet und wurden in allen Einzelheiten erläutert.
Kaye tippte ihr Passwort ein. In ihren ursprünglichen Arbeiten hatte sie sieben Gene dingfest gemacht, die als Kandidaten für Expression und Zusammenbau vollständiger, infektiöser HERVPartikel infrage kamen. Diejenigen, die sie am wahrscheinlichsten für funktionsfähig gehalten hatte, standen, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, tatsächlich mit SHEVA in Zusammenhang — zum Glück, hätte sie eigentlich denken müssen. In den paar Monaten, seit sie bei Americol war, hatte sie die sechs anderen Kandidaten eingehender untersucht, und nun wollte sie eine Liste mit mehreren tausend weiteren, möglicherweise interessanten Genen in Angriff nehmen.