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Kaye galt als Expertin, aber in der riesigen Welt der menschlichen DNA kannte sie eigentlich nur ein paar baufällige, scheinbar aufgegebene Baracken in mehreren kleinen, fast vergessenen Städten. Die HERVGene waren angeblich Fossilien, verstreute Bruchstücke in DNAAbschnitten, die noch nicht einmal eine Million Basenpaare lang waren. Auf derart geringe Entfernungen können Gene aber ziemlich leicht rekombinieren — das heißt von einer Stelle an eine andere springen. Die DNA ist ständig im Umbruch — Gene wechseln ihre Position und bilden in der DNA kleine Knoten oder Blasen, die sich verdoppeln, eine Reihe sich drehender und windender, immer wieder anders angeordneter Ketten; die Gründe konnte sich eigentlich niemand vollständig ausmalen. Dennoch war SHEVA über Jahrmillionen hinweg erstaunlich stabil geblieben. Die Veränderungen, nach denen sie suchte, würden geringfügig und zugleich höchst bedeutsam sein.

Wenn sie Recht hatte, würde sie ein großes wissenschaftliches Lehrgebäude umstoßen, die Reputation vieler Fachleute beschädigen und die biologische Auseinandersetzung des einundzwanzigsten Jahrhunderts vom Zaun brechen, ja sogar einen regelrechten Krieg. Und dabei wollte sie nicht zu einem der ersten Opfer werden, nur weil sie in halbfertiger Rüstung auf dem Schlachtfeld erschienen war. Über die Ursachen nur zu spekulieren, reichte nicht aus. Ungewöhnliche Behauptungen erfordern ungewöhnliche Belege.

Geduldig und in der Hoffnung, es werde frühestens in einer Stunde jemand anderes ins Labor kommen, verglich sie noch einmal die bei SHEVA gefundenen Sequenzen mit denen der sechs anderen Kandidaten. Dieses Mal befasste sie sich eingehend mit den Transkriptionsfaktoren, die die Expression des großen Proteinkomplexes in Gang setzten. Seit gestern wusste sie, dass es damit etwas auf sich haben musste, aber erst nach mehrmaliger Überprüfung der Sequenzen fand sie es heraus: Vier der Kandidaten trugen ähnliche Faktoren, die sich aber alle geringfügig unterschieden.

Sie sog tief die Luft ein. Einen Augenblick lang war ihr, als stünde sie am Rand einer hohen Klippe. Die Transkriptionsfaktoren waren sicher spezifisch für verschiedene Varianten des großen Proteinkomplexes, der demnach von mehreren Genen codiert wurde.

Es gab mehrere DarwinViren.

In der Vorwoche hatte Kaye möglichst genaue Sequenzen von über hundert Genen auf mehreren Chromosomen angefordert.

Der Leiter der GenomArbeitsgruppe hatte ihr versprochen, sie bis heute Morgen zur Verfügung zu stellen. Er hatte gute Arbeit geleistet: Schon mit bloßem Auge sah sie interessante Ähnlichkeiten.

Aber für eine derartige Datenfülle reichte das bloße Auge nicht aus. Mit einem hauseigenen Softwarepaket namens METABLAST suchte sie nach DNAAbschnitten, die in ihrer Sequenz ungefähr zu dem bekannten Gen für den großen Proteinkomplex auf dem Chromosom 21 homolog waren. Sie beantragte und erhielt für drei Minuten den größten Teil der Rechenleistung auf dem Großrechner der Firma.

Als die Analyse abgeschlossen war, hatte Kaye die gesuchten Übereinstimmungen gefunden — und darüber hinaus mehrere hundert andere, alle versteckt in dem so genannten DNASchrott, alle mit geringfügigen Unterschieden, mit anderen Anweisungen, die jeweils andere biologische Strategien eröffneten.

Die Gene für den großen Proteinkomplex waren auf allen zweiundzwanzig Autosomen vertreten, den Chromosomen des Menschen, die nicht über das Geschlecht bestimmen.

»Sicherungskopien«, flüsterte Kaye, als könne sie jemand belauschen. »Alternativen.« Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Mit einem Ruck stand sie vom Schreibtisch auf und ging im Labor auf und ab. »Du lieber Himmel. Was mache ich mir hier eigentlich für Gedanken?«

In seiner derzeitigen Form funktionierte SHEVA nicht richtig.

Die neuen Babys starben. Das Experiment — die Schaffung einer neuen Subspezies — wurde durch äußere Feinde behindert, durch andere, ungezähmte Viren, die nicht vor undenklicher Zeit mit ins Boot geholt und in das Hilfsmittelarsenal der Menschen aufgenommen worden waren.

Sie hatte ein weiteres Glied in ihrer Indizienkette gefunden.

Wenn eine Botschaft unbedingt ankommen muss, schickt man viele Boten los. Und diese Boten können unterschiedliche Botschaften transportieren. Ein komplizierter Mechanismus, der über die Gestalt einer neuen Spezies bestimmt, würde sich mit Sicherheit nicht nur auf einen einzigen kleinen Informationsübermittler und eine festgelegte Nachricht verlassen, sondern ganz automatisch raffinierte Konstruktionsalternativen schaffen, die mit möglichst allen Widrigkeiten der Außenwelt fertig werden, mit Problemen, die nicht unmittelbar zu spüren oder vorherzusehen sind.

Was sie hier vor sich sah, war vermutlich die Erklärung für die Riesenmengen an HERV und anderen beweglichen Elementen: Sie dienten dazu, für einen wirksamen, erfolgreichen Übergang zu einem neuen Phänotyp zu sorgen, zu einer neuen Menschenvariante. Wir wissen nur noch nicht, wie es funktioniert. Es ist so kompliziert … man kann sein ganzes Leben damit zubringen, es zu verstehen!

Angst machte ihr vor allem, dass man den Befund in der derzeitigen Atmosphäre völlig falsch deuten würde.

Sie schob den Stuhl vom Computertisch zurück. Alle Energie, die sie heute Morgen in sich gespürt hatte, der ganze Optimismus, das Nachglühen der Nacht mit Mitch, erschienen auf einmal leer und sinnlos.

Auf dem Korridor hörte sie Stimmen. Die Stunde war schnell vergangen. Sie stand auf und faltete den Ausdruck mit den Kandidatengenen zusammen. Sie musste damit zu Jackson gehen — das war ihre erste Pflicht. Anschließend wollte sie mit Dicken reden.

Sie mussten ihre Reaktionen abstimmen.

Von dem Trockenständer nahm sie ihren Mantel und warf ihn über. Sie wollte gerade gehen, da kam Jackson aus dem Flur herein. Kaye sah ihn ein wenig erschrocken an — er war noch nie zu ihr ins Labor gekommen. Er sah erschöpft und zutiefst besorgt aus. Auch er hatte ein Blatt Papier in der Hand.

»Ich dachte, Sie sollten es als Erste erfahren«, sagte er und schwenkte das Papier vor ihrer Nase.

»Was sollte ich erfahren?«

»Wie weit Sie wahrscheinlich daneben liegen. SHEVA kann mutieren.«

Kayes Tag endete mit drei Stunden voller Besprechungen mit leitenden Angestellten und Assistenten — eine Litanei der Zeitpläne und Termine, der alltägliche Kleinkram der Forschung in einem winzigen Teil eines sehr großen Unternehmens. So etwas war im besten Fall betäubend, aber jetzt wurde es fast unerträglich. Die selbstgefällige Herablassung, mit der Jackson ihr die Nachrichten aus Deutschland übermittelt hatte, hätte sie fast zu einer scharfen Erwiderung verleitet, aber sie hatte nur gelächelt und gesagt, sie arbeite bereits an der Frage; dann war sie gegangen … um sich auf der Damentoilette fünf Minuten lang im Spiegel anzustarren.

Von Americol ging sie in Begleitung des stets wachsamen Benson zu ihrem Wohnhochhaus. Die letzte Nacht kam ihr fast wie ein Traum vor. Der Pförtner öffnete die große Glastür, lächelte beide höflich an und bedachte den Leibwächter mit einem kollegialen Nicken. Benson kam mit ihr in die Aufzugkabine. Kaye hatte sich in Gegenwart des Sicherheitsbeamten nie sonderlich wohl gefühlt, aber bisher war es ihr gelungen, stets eine höfliche Unterhaltung zu führen. Jetzt aber konnte sie auf seine Frage, wie ihr Tag gelaufen sei, nur mit einem Brummen antworten.

Als sie die Tür Nummer 2011 aufschloss, dachte sie einen Augenblick lang, Mitch sei nicht mehr da. Mit einem Zischen stieß sie den Atem aus. Er hatte bekommen, was er wollte, und jetzt musste sie sich wieder allein mit ihrem Versagen auseinander setzen, mit ihren intelligentesten und verheerendsten Fehlschlägen.