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Aber dann kam Mitch mit fast freudiger Hast aus dem kleinen Nebenzimmer. Er blieb einen Augenblick lang vor ihr stehen, sah ihr prüfend ins Gesicht, taxierte die Situation und umarmte sie dann ein wenig zu sanft.

»Drück’ mich, bis ich schreie«, sagte sie. »Es war ein wirklich schrecklicher Tag.«

Aber das verhinderte nicht, dass sie Lust auf ihn hatte. Wieder war die Liebe heftig und feucht und voll wunderbarer Harmonie, wie sie es noch nie erlebt hatte. Diesen Augenblicken gab sie sich ganz hin, und als sie nicht mehr konnten, als Mitch von Schweißperlen bedeckt neben ihr lag und die Laken unter ihr unangenehm nass waren, musste sie weinen.

»Jetzt wird es wirklich hart«, sagte sie mit zitterndem Kinn.

»Erzähl’ es mir.«

»Ich glaube, ich habe Unrecht, wir haben Unrecht. Ich weiß, dass es nicht stimmt, aber alle sagen mir, dass ich Unrecht habe.«

»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Mitch.

»Nein!«, schrie sie. »Ich habe es vorausgesagt, ich habe es kommen sehen, aber nicht frühzeitig genug, und sie haben mich ausgebootet. Jackson hat mich ausgebootet. Ich habe noch nicht mit Marge Cross gesprochen, aber …«

Mitch brauchte mehrere Minuten, um ihr die Einzelheiten aus der Nase zu ziehen, und auch danach konnte er nur ungefähr nachvollziehen, wovon sie redete. Kurz gesagt, hatte sie den Eindruck, dass neue Ausprägungsformen von SHEVA neue Varianten der großen Proteinkomplexe entstehen ließen, einfach für den Fall, dass das erste DarwinVirus sich nicht als wirksam erwies oder auf Schwierigkeiten stieß. Jackson und fast alle anderen dagegen glaubten, sie hätten es mit einer mutierten und vielleicht noch ansteckenderen Form von SHEVA zu tun.

»Das DarwinVirus«, wiederholte Mitch, grüblerisch wegen des Begriffs.

»Der Signalmechanismus. SHEVA.«

»Mmmhmm«, sagte er. »Ich finde deine Erklärung sinnvoller.«

»Warum ist sie sinnvoller? Bitte sag’ mir, dass ich nicht nur starrköpfig bin und Unrecht habe.«

»Zähl’ doch eins und eins zusammen«, erwiderte Mitch. »Lass’ die Tatsachen noch einmal durch die Mühle der Wissenschaft laufen. Wir wissen, dass die Artbildung sich manchmal in sehr kleinen Schritten vollzieht. Von den Mumien in den Alpen wissen wir, dass SHEVA bei Menschen aktiv war, die eine neue Art von Babys zur Welt brachten. Artbildung ist selbst in historischen Zeitmaßstäben selten — und SHEVA war der medizinischen Wissenschaft bis vor kurzem überhaupt nicht bekannt. Wenn es zwischen SHEVA und der Artbildung in kleinen Schritten keinen Zusammenhang gibt, sind das viel zu viele Zufälle.«

Sie drehte sich auf die Seite, sah ihm ins Gesicht und strich mit den Fingern so über seine Wangen und um die Augen, dass er zusammenfuhr.

»Tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist so toll, dass du da bist. Du baust mich auf. Heute Nachmittag — ich habe mich noch nie so einsam gefühlt … nicht seit Saul weg ist.«

»Ich glaube, Saul hat nie gewusst, was er an dir hatte«, sagte Mitch.

Kaye ließ den Satz einen Augenblick zwischen ihnen stehen — sie wollte wissen, ob sie ihn überhaupt verstand. »Nein«, sagte sie schließlich, »das konnte er gar nicht wissen.«

»Ich weiß, wer und was du bist«, erwiderte Mitch.

»Wirklich?«

»Eigentlich noch nicht«, räumte er lächelnd ein, »aber ich wüsste es gerne.«

»Wir brauchen uns nur zuhören«, sagte Kaye. »Was hast du heute gemacht?«

»Ich war im YMCA und habe meinen Spind ausgeräumt. Dann bin ich wieder mit dem Taxi hierher gefahren und habe herumgelungert wie ein Gigolo.«

»Ich meine es ernst«, sagte Kaye und drückte seine Hand fester.

»Ich habe ein paar Telefongespräche geführt. Morgen fahre ich mit dem Zug nach New York. Dort treffe ich mich mit Merton und dem geheimnisvollen Fremden aus Österreich. Wir fahren zusammen zu einem Haus, das Merton als ›großartige, höchst verführerische Villa im Staat New York‹ bezeichnet. Anschließend geht es mit dem Zug nach Albany zu meinem Vorstellungsgespräch bei der State University.«

»Wozu eine Villa?«

»Keine Ahnung.«

»Und kommst du zurück?«

»Wenn du mich hier haben willst.«

»Und ob ich das will. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Kaye. »Wir werden schon zum Nachdenken wenig Zeit haben, und für Sorgen noch viel weniger.«

»Die Liebe ist in Zeiten der Cholera am schönsten«, sagte Mitch.

»Morgen wird alles noch viel schlimmer«, grübelte Kaye. »Jackson wird großen Stunk machen.«

»Lass’ ihn doch«, erwiderte Mitch. »Ich glaube, auf lange Sicht wird es niemand aufhalten können. Bremsen vielleicht, aber aufhalten — nein.«

55

Washington, D. C.

Dicken stand auf den Stufen des Kapitols. Es war ein warmer Abend. Dennoch fröstelte er ein wenig, denn er hörte ein Geräusch wie von einem Meer, akzentuiert durch Wellen widerhallender Stimmen. Nie hatte er sich so allein, so isoliert gefühlt wie jetzt, als er zu den etwa fünfzigtausend Menschen hinüberblickte, einer Menge, die sich vom Kapitol bis zum Washington Monument und darüber hinaus erstreckte. Die bewegliche Masse drängte gegen die Barrieren am Fuß der Treppe, strömte um die Zelte mit den Rednertribünen, hörte aufmerksam einem Dutzend verschiedener Ansprachen zu und kreiste langsam wie aufgerührte Suppe in einer riesigen Terrine. Er schnappte ein paar vom Wind zerhackte Brocken der Reden auf — unvollständig, aber aufschlussreich, grobe Sprachfetzen zum Aufheizen der Menge.

Sein ganzes Leben lang hatte Dicken den Krankheiten nachgespürt, die diese Menschen befielen, und sich dabei stets so verhalten, als sei er selbst unverwundbar. Tatsächlich hatte er es mit Fachkunde und ein wenig Glück immer vermieden, sich eine dieser Krankheiten zuzuziehen, außer einmal ein DengueFieber-schlimm, aber nicht tödlich. Er hatte sich immer für etwas Besonderes gehalten, für jemanden, der vielleicht ein wenig überlegen war, aber dennoch unendliches Einfühlungsvermögen besaß.

Die Selbsttäuschung eines gebildeten, geistig isolierten Trottels.

Jetzt begriff er es. Die Masse bestimmte, wo es langging. Wenn die Masse es nicht verstand, hatte nichts von dem, was er oder Augustine oder die Taskforce tat, noch viel Sinn. Und die Masse verstand ganz offensichtlich überhaupt nichts. Die Stimmen, die in seine Richtung wehten, sprachen von der Wut auf eine Regierung, die Kinder hinmetzelte, schimpften zornig auf den »Völkermord am Morgen danach«.

Er hatte daran gedacht, Kaye Lang anzurufen, um seine Fassung, sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen, aber er hatte es nicht getan. Er war fertig, am Ende, in einem sehr realen Sinn.

Er stieg die Stufen hinunter, vorbei an Fernsehteams, Kameras, Grüppchen von Beamten, Männern in blauen und braunen — Anzügen mit Sonnenbrillen und Knopf im Ohr. Polizei und Nationalgarde waren entschlossen, die Menschen vom Kapitol fernzuhalten, hinderten aber niemanden daran, sich der Menge anzuschließen.

Dicken hatte schon beobachtet, wie einige Senatoren in einer dicht gedrängten Gruppe herunterkamen und sich ins Gewühl mischten. Auch sie hatten wohl das Gefühl, jetzt nichts Besonderes, Überlegenes mehr darzustellen. Jetzt gehörten sie an die Seite ihres Volkes. Er fand sie einerseits opportunistisch, andererseits aber auch mutig.

Dicken kletterte über die Absperrungen und drängte sich in die Menge. Es war an der Zeit, dass er sich mit dem Fieber ansteckte und die Symptome verstand. Er hatte tief in sich hineingehorcht, und was er dabei gehört hatte, gefiel ihm nicht. Es war besser, zu den Kämpfern an vorderster Front zu gehören, ein Teil der Masse zu sein, ihre Worte und Gerüche in sich aufzunehmen und dann infiziert zurückzukommen, um daraufhin selbst analysiert, verstanden und zu etwas Nützlichem verwendet werden zu können.