Das würde eine Art von Bekehrung darstellen und der Qual, nie richtig dazuzugehören, ein Ende bereiten. Und wenn die Masse ihn dabei umbrachte, war es vielleicht genau das, was er aufgrund seiner früheren Überheblichkeit und seines Versagens verdient hatte.
Jüngere Frauen in der Menge hatten bunte Masken auf. Alle Männer trugen weiße oder schwarze Masken. Viele hatten Handschuhe an den Händen. Und nicht wenige Männer trugen enge schwarze Jacken mit IndustrieSchwebstoffschutzmasken, so genannte »Filteranzüge«, die den Versprechungen geschäftstüchtiger Händler zufolge die Ausbreitung des »Teufelsvirus« garantiert verhinderten.
Die Menschenmenge an diesem Ende der Mall lachte und hörte beiläufig einem Redner im nächstgelegenen Pavillon zu — die tiefe, volle Stimme des Bürgerrechtlers aus Philadelphia klang zuckersüß wie Karamell. Er sprach von Führungsrolle und Verantwortung, von dem, was der Staat zur Eindämmung der Seuche tun müsse, und von der Möglichkeit — nur der Möglichkeit —, dass die Seuche vielleicht in den geheimen Kellern der Regierung selbst ihren Ursprung haben könne.
»Manche schreien, sie stamme aus Afrika. Aber nicht Afrika ist krank, sondern wir. Andere schreien, es sei eine Teufelskrankheit, die uns nach der Prophezeiung befällt, um uns zu bestrafen …«
Dicken ging weiter, bis er die leidenschaftlichhektische Stimme eines Fernsehpredigers vernahm, der von grellen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Der große Mann hatte einen vierschrötigen Kopf und schwitzte in seinem allzu engen schwarzen Geschäftsanzug. Gestikulierend tänzelte er auf dem Podium herum und ermahnte seine Zuhörer, um Beistand zu beten und tief in sich zu gehen.
Dicken dachte an seine Großmutter, der das sicher gefallen hätte. Er ging weiter.
Allmählich dämmerte es, und er spürte, wie die Spannung in der Menge wuchs. Irgendwo außer Hörweite war etwas geschehen, war etwas gesagt worden. Die Dunkelheit löste einen Stimmungsumschwung aus. Straßenlampen gingen an und tauchten die Menge in ein leuchtendes, gespenstisches Orange. Als er nach oben blickte, sah er die Hubschrauber, die in respektvoller Höhe kreisten und wie Insekten brummten. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie wohl alle mit Tränengas eingenebelt oder erschossen werden sollten, aber der Umschwung wurde nicht von Soldaten, Polizei oder Hubschraubern ausgelöst.
Der Impuls rollte an wie eine Welle.
Er spürte erwartungsvolles Verlangen, das wie eine Flut anstieg, und hoffte, ihm werde sich etwas Neues eröffnen, ganz gleich, was die Menge beunruhigte. Aber es tat sich eigentlich gar nichts Neues. Es war nur der Drang, sich irgendwie zu bewegen, erst in diese, dann in jene Richtung. Inmitten der dicht gedrängten Menge ging er erst drei Meter vor, dann drei Meter zurück, so als sei er gezwungen, bei einem bizarren Gruppentanz mitzuwirken.
Dickens Überlebensinstinkt sagte ihm, es sei jetzt an der Zeit, die eigene Angst, den ganzen Psychomist zu überwinden und sich aus der Menge zu entfernen. Er hörte, wie ganz in der Nähe ein Redner zur Vorsicht mahnte, und wie der Mann neben ihm, der einen Filteranzug trug, durch die Maske murmelte: »Inzwischen ist es nicht nur eine Krankheit. Es kam gerade in den Nachrichten.
Es gibt noch eine weitere Seuche.«
Eine Frau mittleren Alters im Blümchenkleid hatte einen kleinen tragbaren Fernseher dabei. Sie hielt ihn in die Höhe, sodass die Umstehenden auf dem Bildschirm den winzigen Kopf erkennen konnten, der mit einem dünnem Stimmchen etwas sagte. Dicken konnte die Worte nicht verstehen.
Langsam und ständig auf der Hut, als watete er durch Nitroglyzerin, kam er bis zum Rand der Menge voran. Sein Hemd und die dünne Jacke waren schweißdurchtränkt. Ein paar andere versprengte scharfe Beobachter wie er selbst, spürten die Veränderung ebenfalls, ihre Blicke huschten hin und her. Die Menge wurde vom eigenen Chaos erdrückt. Es war eine dunkle, schwüle Nacht; Sterne waren nicht zu sehen. Die orangefarbenen Lampen entlang der Straße und rings um die Podeste und Zelte tauchten alles in hartes Licht.
In einer Gruppe von zwanzig oder dreißig Menschen stand Dicken jetzt wieder vor den Barrikaden an den Stufen des Kapitols, wo er bereits vor einer Stunde gewesen war. Berittene Polizisten, Männer und Frauen auf wunderschönen braunen Pferden, die in dem irrealen Licht die Farbe von Bernstein hatten, bewegten sich an der Absperrung hin und her. Es waren Dutzende, mehr als er je zuvor gesehen hatte. Die Soldaten der Nationalgarde hatten sich ein Stück zurückgezogen und bildeten eine — allerdings nicht sehr dichte — Kette. Sie waren nicht einsatzbereit. Offenbar rechneten sie nicht mit Schwierigkeiten, denn sie hatten weder Helme noch Schilde dabei.
Unvermittelt hörte er ringsum flüsternde, gedämpfte Stimmen.
»Kann nicht …«
»Kinder haben das …«
»Meine Enkel werden …«
»Die letzte Generation …«
»Buch …«
»Halt …«
Dann gespenstische Stille. Dicken stand in der fünften Reihe.
Weiter würden sie ihn nicht durchlassen. Beschränkte, aufgebrachte Gesichter, wie Schafe, mit leerem Blick. Schiebende Hände. Unwissend. Verängstigt.
Er hasste sie, hätte ihnen am liebsten die Nase eingeschlagen. Er war ein Narr; er wollte nicht zu den Schafen gehören. »Darf ich mal durch?« Keine Reaktion. Der Mob hatte sich entschieden; er spürte das zielgerichtete Pulsieren. Die hirnlose Masse wartete gespannt ab.
Im Osten flammten Lichter auf. Dicken sah, wie das Washington Monument in weißes Licht, heller als die Scheinwerfer, getaucht wurde. Vom düsteren, trüben Himmel war leises Donnergrollen zu hören. Regentropfen fielen auf die Menge. Gesichter blickten nach oben.
Er konnte die Bereitschaft der Menge mit Händen greifen. Es musste etwas geschehen. Nur noch ein Gedanke beschäftigte sie: Es muss etwas geschehen.
Es begann zu schütten. Die Menschen streckten die Hände über den Kopf. Lächeln machte sich breit. Gesichter überließen sich dem Regen. Manche Leute setzten sich, so gut es ging, in Bewegung. Andere hielten dagegen, sodass erstere bestürzt stehen blieben.
Ein Krampf durchzuckte die Menge. Plötzlich spie sie ihn aus.
Er schaffte es bis zu den Absperrungen, wo er sich plötzlich einem Polizisten gegenübersah. »Du lieber Gott«, sagte der Polizist und trat hastig drei Schritte zurück, als die Menge sich über die Barrieren schob. Die Berittenen versuchten sie zurückzudrängen und sprengten hinein. Eine Frau schrie auf. Wie eine große Woge schwappte die Menge über die berittenen und unberittenen Polizisten hinweg, ehe sie ihre Schlagstöcke heben oder ihre Pistolen aus den Halftern ziehen konnten. Ein Pferd wurde gegen die Stufen gedrängt und geriet ins Stolpern; es stürzte in die Menge, der Reiter fiel herunter, ein Stiefel flog durch die Luft.
Dicken schrie »Ich gehöre zum Stab!« und rannte die Stufen des Kapitels hinauf, mitten zwischen den Wachen hindurch, die keine Notiz von ihm nahmen. Froh, sich befreit zu haben, schüttelte er den Kopf, lachte und wartete, dass der Tumult richtig losging.
Aber der Mob war dicht hinter ihm, und er schaffte es gerade noch, wieder loszulaufen, weg von den Menschen, den vereinzelten Schüssen, der nassen, sich ausbreitenden, stinkenden Masse.
56
New York
Mitch entdeckte die morgendliche Schlagzeile an einem Zeitungsstand der Pennsylvania Station. In der Daily News hieß es:
AUFRUHR VOR DEM KAPITOL
Senat gestürmt
Vier Senatoren getötet; Dutzende Tote, mehrere tausend Verletzte
Kaye und er hatten am Abend bei Kerzenlicht zusammen gegessen und danach miteinander geschlafen. Sehr romantisch, völlig losgelöst von allem. Sie hatten sich erst vor einer Stunde getrennt. Kaye hatte die Farbe ihrer Kleidung sorgfältig ausgewählt; sie hatte einen schwierigen Tag vor sich.