Er holte sich eine Zeitung und bestieg den Zug. Gerade hatte er sich gesetzt und das Blatt aufgeschlagen, da fuhr der Zug an. Als er beschleunigte, fragte sich Mitch, ob Kaye sich in Gefahr befand, ob es ein spontaner oder organisierter Aufruhr war und ob das überhaupt eine Rolle spielte.
Das Volk hatte gesprochen, oder besser gesagt: Es hatte die Zähne gefletscht. Die Leute hatten das Versagen und die Untätigkeit Washingtons satt. Der Präsident führte jetzt Gespräche mit seinen Sicherheitsberatern, den Stabschefs, den Vorsitzenden der wichtigsten Ausschüsse und dem obersten Richter. Für Mitch klang das ganz danach, als bereite man sich langsam, aber sicher darauf vor, den nationalen Notstand auszurufen.
Es war ihm nicht recht, im Zug zu sitzen. Dass Merton ihm oder Kaye nützlich sein konnte, bezweifelte er, und er konnte sich auch nicht vorstellen, vor Collegestudenten Vorlesungen über knochentrockene Knochenkunde zu halten, ohne jemals wieder den Fuß auf ein Grabungsgelände zu setzen.
Mitch legte die zusammengefaltete Zeitung auf seinen Sitz und machte sich durch den Gang auf den Weg zum öffentlichen Telefon am Ende des Wagens. Er wählte Kayes Nummer, aber sie war schon weg; sie bei Americol anzurufen, hielt er für taktisch unklug.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, kehrte er zu seinem Platz zurück.
57
Baltimore
Dicken hatte sich für zehn Uhr mit Kaye in der AmericolKantine verabredet. An der Konferenz, die für sechs Uhr abends angesetzt war, würden eine ganze Reihe Gäste teilnehmen, unter anderem der Vizepräsident und der wissenschaftspolitische Berater des Präsidenten.
Dicken sah entsetzlich aus. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. »Diesmal bin ich das Wrack«, sagte er. »Ich glaube, die Diskussion ist vorbei. Wir sind erledigt, wir sind ausgeschieden.
Wir können zwar weiter Krach schlagen, aber ich wüsste nicht, wer uns noch zuhören sollte.«
»Und was ist mit den wissenschaftlichen Aspekten?«, fragte Kaye vorwurfsvoll. »Sie haben sich doch nach der HerpesKatastrophe alle Mühe gegeben, uns wieder auf Kurs zu bringen.«
»SHEVA mutiert«, sagte Dicken und schlug mit der Hand rhythmisch auf den Tisch.
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«
»Sie haben nur nachgewiesen, dass SHEVA vor langer Zeit mutiert ist. Es ist schlicht und einfach ein menschliches Retrovirus, und zwar ein altes mit einer langsamen, aber sehr schlauen Fortpflanzungsstrategie.«
»Christopher …«
»Sie werden Ihre Anhörung bekommen«, erwiderte Dicken. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Erklären Sie es nicht mir. Erklären Sie es denen.«
Kaye sah ihn verärgert und zugleich erstaunt an. »Warum haben Sie es sich nach so langer Zeit anders überlegt?«
»Am Anfang habe ich ein Virus gesucht. Ihre Artikel, Ihre Arbeiten haben mich vermuten lassen, es könne etwas anderes sein.
Aber wir können uns alle irren. Unsere Aufgabe besteht darin, nach Belegen zu suchen, und wenn sie überzeugend sind, müssen wir unsere kleinen Lieblingsideen aufgeben.«
Kaye stand neben ihm und hob den Zeigefinger. »Sagen Sie mir, dass es Ihnen ausschließlich um Wissenschaft geht.«
»Natürlich nicht. Kaye, ich war auf den Stufen des Kapitols. Ich hätte einer von diesen armen Teufeln sein können, die erschossen oder totgetrampelt wurden.«
»Davon rede ich nicht. Sagen Sie mir, dass Sie Mitch nach unserem Gespräch in San Diego zurückgerufen haben.«
»Das habe ich nicht getan.«
»Und warum nicht?«
Dicken starrte sie an. »Nach der letzten Nacht sind alle persönlichen Dinge nebensächlich, Kaye.«
»Wirklich?«
Dicken verschränkte die Arme. »Jemanden wie Mitch könnte ich niemals bei Augustine vorstellen und dann darauf hoffen, dass es Ihre Position stärkt. Mitch hatte interessante Informationen, aber die haben nur bewiesen, dass wir schon seit langem mit SHEVA leben.«
»Er hat uns beiden vertraut.«
»Ihnen vertraut er mehr, glaube ich«, sagte Dicken, und sein Blick schweifte ab. »Und das hat Ihr Urteil beeinflusst?«
»Hat es Ihres beeinflusst?«, brauste Dicken auf. »Ich kann nicht mal pinkeln gehen, ohne dass irgendjemand irgendjemand anderem berichtet, wie lange ich auf dem Klo war. Und Sie, Sie haben Mitch mit in Ihre Wohnung genommen.«
Kaye drängte sich dicht an ihn heran. »Augustine hat Ihnen erzählt, dass ich mit Mitch geschlafen habe?«
Aber Dicken ließ sich nicht bedrängen. Er stieß sie sanft zurück und trat einen Schritt zur Seite. »Ich finde es genauso blöd wie alle anderen, aber es muss nun einmal sein.«
»Wer sagt das? Augustine?«
»Der hat sich auch die Finger verbrannt. Wir stecken in einer Krise. Verdammt noch mal, Kaye, das sollte doch mittlerweile jedem klar sein.«
»Ich habe nie behauptet, ich wäre eine Heilige. Als Sie mich da reingezogen haben, habe ich darauf gesetzt, dass Sie mich nicht im Stich lassen.«
Dicken senkte den Kopf und blickte erst zur einen, dann zur anderen Seite. Er war hin- und hergerissen zwischen Trübsal und Wut. »Ich dachte, Sie könnten eine Partnerin sein.«
»Was für eine Partnerin, Christopher?«
»Jemand, der … mich unterstützt. Eine Geistesverwandte.«
»Eine Geliebte?«
Einen Augenblick lang nahm Dickens Gesicht den Ausdruck eines kleinen Jungen an, der eine niederschmetternde Neuigkeit erfährt. Er sah Kaye voller Sehnsucht und Traurigkeit an. Vor Erschöpfung konnte er kaum noch aufrecht stehen.
Kaye hielt inne und überlegte. Sie hatte ihm keinerlei Hoffnungen gemacht, und sich selbst hatte sie nie für eine atemberaubende Schönheit gehalten, deren Reize für die Männer unwiderstehlich waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann so weitreichende Gefühle für sie hegte.
»Sie haben mir nie gesagt, dass Sie etwas anderes empfinden als Neugier«, sagte sie.
»Ich handle nie schnell genug, und ich sage nie, was ich wirklich meine«, erwiderte Dicken. »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie keine Ahnung hatten.«
»Aber es tut Ihnen weh, dass ich mich für Mitch entschieden habe.«
»Dass es weh tut, kann ich nicht leugnen. Aber es hat keinen Einfluss auf mein wissenschaftliches Urteil.«
Kaye ging um den Tisch herum und schüttelte den Kopf. »Was können wir denn jetzt noch retten?«
»Sie können Ihre Begründung vortragen. Ich glaube nur nicht, dass sie überzeugen wird.« Er wandte sich mit einem Ruck um und verließ die Kantine.
Kaye brachte ihr Tablett zum Geschirrtransportband. Dann sah sie auf die Uhr. Sie brauchte jetzt eine kräftige Dosis persönlicher Zuwendung, ein Gegenüber. Luella Hamilton fiel ihr ein. Sie konnte es gerade noch schaffen, zu den NIH hinauszufahren, sich mit Luella zu unterhalten und bis zur Besprechung wieder zurück zu sein.
An der Rezeption des Sicherheitsdienstes bestellte sie sich einen firmeneigenen Wagen.
58
Beresford, Staat New York
Mitch trat unter dem weißen Zeltdach hervor, das den denkmalgeschützten Bahnhof der Kleinstadt Beresford überspannte. Die Augen mit einer Hand vor der Morgensonne schützend, sah er vor sich ein Beet voll hellgelber Osterglocken; daneben stand eine knallrote Mülltonne. Er war der Einzige, der hier ausstieg. Es roch nach heißem Maschinenöl, Asphalt und frisch gemähtem Gras. Er hielt Ausschau, ob ihn jemand abholte — er rechnete mit Merton.