»Danke, Dr. Lang«, sagte Phillips. »Fragen?«
Frank Shawbeck hob die Hand. »Unterstützt Dr. Dicken Ihre Schlussfolgerungen?«
Dicken stand auf. »Ich habe es eine Zeit lang getan. Belege aus jüngster Zeit haben mich überzeugt, dass ich Unrecht hatte.«
»Welche Belege?«, rief Jackson dazwischen. Augustine hob warnend den Finger, ließ die Frage aber zu.
»Ich bin jetzt der Ansicht, dass SHEVA wie ein Krankheitserreger mutiert«, erwiderte Dicken. »Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass es nicht als Pathogen wirkt.«
»Dr. Lang, stimmt es nicht, dass angeblich nichtinfektiöse Formen von HERV schon früher mit bestimmten Krebserkrankungen in Verbindung gebracht wurden?«, fragte Shawbeck.
»Ja, Sir. Aber sie werden in nichtinfektiöser Form auch in vielen anderen Geweben einschließlich der Plazenta exprimiert. Erst jetzt haben wir die Möglichkeit, die vielen Funktionen dieser endogenen Retroviren zu verstehen.«
»Bisher wissen wir also nicht, warum sie sich in unserem Genom, in unseren Geweben befinden; stimmt das, Dr. Lang?«, wollte Augustine wissen.
»Bisher kennen wir keine Theorie, mit der sich ihr Vorhandensein erklären ließe.«
»Abgesehen davon, dass sie als Krankheitserreger wirken können?«
»Viele Stoffe in unserem Organismus sind einerseits wegen ihrer positiven Wirkung notwendig und können andererseits gelegentlich an Krankheiten mitwirken«, erwiderte Kaye. »Onkogene sind notwendige Gene, aber manchmal werden sie auch dazu veranlasst, Krebs zu erzeugen.«
Jackson hob die Hand. »Ich möchte diesem Argument gern aus der Sicht der Evolutionsbiologie entgegentreten«, sagte er. »Ich bin zwar kein Evolutionsbiologe und habe auch nie im Fernsehen einen gespielt …«
Gekicher bei allen außer Shawbeck und dem Vizepräsidenten, dessen Gesicht immer noch versteinert war.
»… aber ich denke, man hat mir die herrschende Lehre in der Schule und Universität zur Genüge eingetrichtert. Nach dieser Lehrmeinung ereignet sich Evolution durch Zufallsmutationen im Genom. Durch die Mutationen verändern sich Proteine oder andere anhand unserer DNA produzierte Zellbestandteile, und das ist normalerweise schädlich, sodass das betroffene Lebewesen krank wird oder stirbt. Über sehr lange Zeiträume jedoch und unter wechselnden Umweltbedingungen können durch die Mutationen auch neue Formen entstehen, die einen Vorteil bieten. Ist das so weit richtig, Dr. Lang?«
»Das ist die herrschende Lehre«, bestätigte Kaye.
»Sie wollen uns aber offenbar sagen, es gebe einen bisher unbekannten Mechanismus, durch den das Genom die Kontrolle über seine eigene Evolution übernimmt, durch den es irgendwie spürt, wann der richtige Zeitpunkt für eine Veränderung gekommen ist.
Richtig?«
»So gesehen, ja«, sagte Kaye. »Nach meiner Überzeugung ist unser Genom viel schlauer als wir. Zehntausende von Jahren haben wir gebraucht, bis wir so weit waren, die Funktionsweise des Lebens wenigstens ansatzweise zu verstehen. Die Lebewesen auf der Erde machen schon seit Jahrmilliarden ihre Evolution mit Konkurrenz und Kooperation durch. Sie haben gelernt, unter Bedingungen zu überleben, die wir uns kaum ausmalen können. Selbst der konservativste Biologe weiß, dass unterschiedliche Bakterienarten zusammenarbeiten und voneinander lernen können — und viele begreifen mittlerweile, dass verschiedene Metazoenarten, Pflanzen und Tiere wie wir, im Wesentlichen das Gleiche tun, wenn sie ihre Aufgaben im Ökosystem erfüllen. Die Spezies auf der Erde haben gelernt, Klimaveränderungen vorherzusehen und sich im Voraus darauf einzustellen, sich einen Vorsprung zu verschaffen.
Ich glaube, im vorliegenden Fall reagiert das Genom auf den gesellschaftlichen Wandel und die von ihm verursachten Belastungen.«
Jackson tat, als lasse er sich diese Ideen erst einmal durch den Kopf gehen, und fragte dann: »Wenn Sie einen Doktoranden betreuen müssten, und er würde vorschlagen, diese Möglichkeit in seiner Dissertation näher zu untersuchen — würden Sie ihn ermutigen?«
»Nein«, sagte Kaye entschieden.
»Warum nicht?«, bohrte Jackson weiter.
»Es ist keine allgemein anerkannte Sichtweise. Die Evolutionsforschung war immer ein sehr engstirniges Teilgebiet der Biologie, und nur wenige tapfere Vertreter stellen die Lehre der modernen darwinistischen Synthese infrage. Ein Doktorand sollte das nicht allein versuchen.«
»Charles Darwin hatte Unrecht, und Sie haben Recht?«
Kaye wandte sich an Augustine. »Leitet Dr. Jackson ganz allein dieses Verhör?«
Augustine trat einen Schritt vor. »Sie haben hier die Gelegenheit, ihren Gegnern zu antworten, Dr. Lang.«
Kaye drehte sich wieder um und sah das Publikum einschließlich Jackson mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich stelle Charles Darwin nicht infrage, ich habe, im Gegenteil, große Hochachtung vor ihm. Darwin hätte empfohlen, wir sollten unsere Vorstellungen nicht in Stein meißeln, bevor wir nicht alle Gesetzmäßigkeiten verstanden haben. Auch viele Aussagen der modernen Synthese lehne ich keineswegs ab; alles, was das Genom hervorbringt, muss eindeutig die Überlebensprüfung bestehen.
Mutationen sind eine Ursache unerwarteter und manchmal nützlicher Neuerungen. Aber wenn wir erklären wollen, was wir in der Natur beobachten, reicht das nicht aus. Die moderne Synthese wurde zu einer Zeit entwickelt, als wir gerade die allerersten Erkenntnisse über die DNA gewannen und die moderne Genetik in den Kinderschuhen steckte. Darwin wäre fasziniert gewesen, wenn er gewusst hätte, was wir heute wissen, über Plasmide und den Austausch freier DNA, über Fehlerkorrektur im Genom, über Redigieren von RNA und Transposition und versteckte Viren, über Marker und Genstruktur, über alle möglichen genetischen Phänomene, von denen viele eben nicht fein säuberlich in eine sehr enge Interpretation der modernen Synthese passen.«
»Unterstützt irgendein angesehener Wissenschaftler die Vorstellung, dass das Genom eine Art Geist ist, der sich selbst wahrnimmt, die Umwelt beurteilt und über den Verlauf seiner eigenen Evolution bestimmt?«
Kaye holte tief Luft. »Die von Ihnen formulierte Theorie zu korrigieren und auszuweiten, würde mehrere Stunden dauern, aber die Antwort lautet, einfach gesagt, ja. Leider ist keiner von ihnen heute hier.«
»Und ihre Ansichten sind unumstritten?«
»Natürlich nicht. Nichts auf diesem Gebiet ist unumstritten.
Und den Begriff ›Geist‹ würde ich gern vermeiden, weil er persönliche und religiöse Anklänge hat, die uns hier nicht weiterbringen.
Ich spreche lieber von einem Netzwerk; von einem wahrnehmungs- und anpassungsfähigen Netzwerk aus kooperierenden und konkurrierenden Individuen.«
»Glauben Sie, dass dieser Geist, oder dieses Netzwerk, in irgendeiner Form gleichbedeutend mit Gott sein könnte?« Zu ihrer Überraschung stellte Jackson diese Frage ohne jede Selbstgefälligkeit oder Geringschätzung.
»Nein«, erwiderte Kaye. »Auch unser Gehirn funktioniert als wahrnehmungs- und anpassungsfähiges Netzwerk, aber deshalb glaube ich nicht, dass wir Götter sind.«
»Aber unser eigenes Gehirn bringt doch den Geist hervor, oder?«
»Ich glaube, hier trifft der Begriff zu, ja.«
Jackson reckte fragend die Hände in die Höhe. »Damit ist der Kreis geschlossen. Eine Art Geist — oder vielleicht jemand mit Namen Geist — lenkt die Evolution?«
»Auch hier sind Betonung und Bedeutung der Wörter wichtig«, sagte Kaye, bevor ihr klar wurde, dass sie die Frage am besten schweigend übergangen hätte.
»Haben Sie Ihre Theorie schon einmal in vollem Umfang von einer angesehenen Fachzeitschrift begutachten und veröffentlichen lassen?«
»Nein«, erwiderte Kaye. »Einige Aspekte habe ich in meinen veröffentlichten Aufsätzen über HERVDL3 zum Ausdruck gebracht, und die haben das Begutachtungsverfahren durchlaufen.«