Er zahlte und trat auf den Bürgersteig. Das Taxi wendete und fuhr davon, bevor andere Autos es einkeilen konnten.
Mitch biss die Zähne zusammen. Die Spannung, die soziale Sprengkraft in der langen Schlange der Männer und Frauen, war mit Händen zu greifen. Anfangs waren es vorwiegend junge Leute gewesen, aber jetzt kamen immer mehr Ältere hinzu. Sie strömten aus den Häusern, und alle marschierten mit erhobener linker Hand.
Keine Fäuste. Hände. Das fand Mitch bemerkenswert.
Ein paar Meter von ihm entfernt parkte ein Polizeiwagen. An seinen geöffneten Türen standen zwei Streifenbeamten und sahen einfach zu.
An dem Tag, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, hatte Kaye sich über die Gesichtsmasken lustig gemacht. Sie hatten sich so selten geliebt. Mitchs Kehle schnürte sich zusammen. Er fragte sich, wie viele Frauen in der Demonstration wohl schwanger waren, wie viele ein positives Ergebnis des SHEVATests erhalten würden, und wie sich das auf ihre Beziehungen auswirkte.
»Wissen Sie, was hier los ist?«, wollte ein Polizist von Mitch wissen.
»Nein.«
»Glauben Sie, dass es schlimm zugehen wird?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Mitch.
»Uns hat mal wieder keiner was gesagt«, grummelte der Polizist und stieg wieder in den Streifenwagen. Das Auto setzte zurück, war aber von anderen Fahrzeugen eingekeilt und kam nicht weiter. Mitch hielt es für klug, dass sie nicht die Sirene einschalteten.
Es war ein anderer Marsch als in San Diego. Hier waren die Menschen müde, traumatisiert, schon fast ohne Hoffnung. Mitch hätte ihnen gern gesagt, dass ihre Angst unbegründet war, dass es sich nicht um eine Katastrophe, nicht um eine Seuche handelte, aber er wusste selbst nicht mehr genau, was er glauben sollte. Angesichts dieser gewaltigen Welle der Gefühle, der Ängste, verblassten alle Überzeugungen und Meinungen.
Er wollte die Stelle an der SUNY nicht annehmen. Er wollte bei Kaye sein und sie beschützen; er wollte ihr helfen, das alles beruflich und privat durchzustehen, und er wollte auch, dass sie ihm half.
Es war nicht die rechte Zeit, um allein zu sein. Die ganze Welt wand sich vor Qualen.
63
Baltimore
Kaye schloss ihr Appartement auf und ging langsam hinein. Sie stieß die schwere Tür hinter sich mit zwei Fußtritten zu, lehnte sich dagegen und verriegelte sie. Dann ließ sie Hand- und Reisetasche fallen und blieb einen Augenblick stehen, als müsse sie sich erst einmal zurechtfinden. Sie hatte seit achtundzwanzig Stunden nicht geschlafen.
Draußen war es später Vormittag.
Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Sie hörte die drei Nachrichten ab. Als Erstes bat Judith Kushner um Rückruf. Die zweite war von Mitch — er hatte eine Telefonnummer in Albany hinterlassen. Die dritte war ebenfalls von Mitch. »Ich habe es geschafft, wieder nach Baltimore zu kommen, aber es war nicht einfach. Sie lassen mich nicht ins Haus, der Schlüssel, den du mir gegeben hast, nützt mir also nichts. Ich habe es bei Americol versucht, aber dort sagt mir die Telefonzentrale, dass sie keine Anrufe nach außerhalb weiterverbinden, und du seist auch nicht dort, oder so was. Ich bin schon ganz krank vor Sorgen. Hier draußen ist die Hölle los, Kaye. Ich rufe in ein paar Stunden noch mal an, hoffentlich bist du dann zu Hause.«
Kaye trocknete sich die Augen und fluchte halblaut. Sie konnte kaum geradeaus blicken. Ihr war, als sei sie in klebrigem Sirup stecken geblieben und dürfe sich nicht die Schuhe reinigen.
Viertausend Demonstranten hatten einen Ring um das AmericolGebäude gebildet und den Verkehr im weiteren Umkreis zum Erliegen gebracht. Die Polizei hatte eingegriffen und die Menge provoziert, sodass sie in immer kleinere, unkontrollierte Gruppen zerfallen war. Tumulte waren ausgebrochen. Sie hatten Brände gelegt und Autos umgestürzt.
»Wo erreiche ich dich, Mitch?«, murmelte sie und nahm das Telefon aus der Ladeschale. Sie blätterte im Telefonbuch und suchte nach der Nummer des YMCA, da klingelte das Telefon in ihrer Hand.
Ungeschickt hob sie es ans Ohr. »Hallo?«
»Schon wieder der Böse Schwarze Mann. Wie geht’s dir?«
»Mitch, Gott sei Dank. Mir geht’s gut, aber ich bin todmüde.«
»Ich bin durch die ganze Stadt gelaufen. Sie haben einen Teil des Tagungszentrums in Brand gesteckt.«
»Ich weiß. Wo bist du jetzt?«
»Nur einen Block weiter. Ich kann dein Haus und den PeptoBismol Tower sehen.«
Kaye lachte. »BromoSeltzer. Blau, nicht rosa.« Sie holte tief Luft. »Ich will nicht mehr, dass du hier bist, Mitch. Ich meine, ich will mit dir nicht mehr hier sein. Mitch, ich rede Unsinn. Ich brauche dich so nötig. Bitte komm. Ich will packen und abhauen.
Der Leibwächter ist noch da, aber unten in der Lobby. Ich sage ihm, dass er dich reinlassen soll.«
»Ich habe nicht mal versucht, die Stelle an der SUNY zu bekommen«, sagte Mitch.
»Und ich habe bei Americol und der Taskforce gekündigt. Jetzt geht es uns beiden gleich.«
»Wir sind beide Landstreicher?«
»Arbeitslos und heimatlos und ohne erkennbare Mittel zum Lebensunterhalt. Abgesehen von einem dicken Bankkonto.«
»Wohin gehen wir?«
Kaye griff in ihre Handtasche und holte die beiden kleinen Schachteln mit den SHEVATestkits heraus, die sie aus dem Handlager im siebten Stock von Americol mitgenommen hatte.
»Wie wär’s mit Seattle? Da hast du doch eine Wohnung, oder?«
»Ja.«
»Hervorragend. Ich brauche dich, Mitch. Lass’ uns für immer und ewig in deinem Junggesellenappartement in Seattle leben.«
»Du spinnst. Ich komme gleich rüber.«
Er legte auf, und sie lachte erleichtert, aber plötzlich brach sie in Schluchzen aus. Sie streichelte sich die Wange mit dem Telefon, erkannte, wie verrückt das war, und legte es hin. »Ich bin wirklich nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sagte sie zu sich selbst und ging in die Küche. Sie beförderte ihre Schuhe mit einem Fußtritt von sich, nahm einen ParrishKunstdruck, der ihrer Mutter gehört hatte, von der Wand und legte ihn auf den Esstisch. Dann stapelte sie alle anderen Bilder darauf, die zu ihr gehörten, zu ihrer Familie, ihrer Vergangenheit.
In der Küche ließ sie sich aus dem Hahn am Kühlschrank ein Glas kaltes Wasser einlaufen. »Scheiß auf den Luxus, scheiß auf die Sicherheit. Scheiß auf den Anstand.« Sie arbeitete eine Liste von zehn weiteren Dingen ab, auf die sie scheißen wollte, und am Ende stand »dieses verdammt dumme Ich«.
Dann fiel ihr ein, dass sie Benson von Mitchs Kommen unterrichten musste.
64
Atlanta
Dicken ging in sein altes Büro im Tiefkeller des Gebäudes 1, Clifton Road. Auf dem Weg öffnete er die Kunststoffumhüllung eines Pakets mit neuem Material — Sicherheitsausweis nach Bundesstandard, druckfrische Vorschriften über neue Sicherheitsmaßnahmen, Themen für die Interviews, die im weiteren Verlauf der Woche angesetzt waren.
Er hatte nie geglaubt, dass es so weit kommen würde. Auf dem Gelände und an dessen Grenzen patrouillierte die Nationalgarde.
Gewalttätige Ausschreitungen hatte es bei den CDC zwar noch nicht gegeben, aber Drohungen erreichten die Telefonzentrale bis zu zehn Mal am Tag.
Nachdem er sein Büro aufgeschlossen hatte, blieb er für kurze Zeit in dem kleinen Raum stehen, um Kühle und Ruhe auf sich wirken zu lassen. Er wünschte sich, er könne jetzt in Lagos oder Tegucigalpa sein. Bei der Arbeit unter widrigen Bedingungen und an abgelegenen Orten fühlte er sich eher zu Hause als hier; selbst Georgien war nach seinem Geschmack schon zu zivilisiert und damit zu gefährlich gewesen.
Viren waren ihm lieber als außer Rand und Band geratene Menschen.
Er ließ das Päckchen auf seinen Schreibtisch fallen. Einen Augenblick lang wusste er nicht mehr, warum er eigentlich hier war.