Er wollte für Augustine etwas holen. Dann fiel es ihm wieder ein: die Berichte des Northside Hospital über die Primärschwangerschaften. Augustine arbeitete an einem Plan, der so streng geheim war, dass auch Dicken nichts Näheres darüber wusste, aber er erforderte, dass alle Akten im Haus, die mit SHEVA oder HERV zu tun hatten, kopiert wurden.
Als er die Berichte gefunden hatte, blieb er nachdenklich stehen.
Ihm fiel ein, wie er sich vor Monaten mit Jane Salter über die Schreie der Affen in den alten Kellerräumen unterhalten hatte.
Er klopfte mit der Fußspitze den Rhythmus eines alten Kinderliedes auf den Boden und murmelte: »Die Affen rasen durch den Wald …«
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Christopher Dicken gehörte zum Team. Er hatte nur noch einen Wunsch: mit Hilfe seiner Intelligenz und Gefühle — und mit einigen unversehrten Körperteilen — zu überleben.
Er nahm das Päckchen und die Ordner. Dann verließ er das Büro.
65
Baltimore
28. April
Kaye schwang sich den Kleidersack über die Schulter. Mitch stand mit den beiden Koffern in der Hand an der Tür, die von einem Gummistopper offen gehalten wurde. Drei Kisten hatten sie bereits im Auto in der Tiefgarage der Wohnanlage verstaut.
»Sie sagen mir, wir sollten in Verbindung bleiben«, sagte Kaye und hielt ein schwarzes Handy in die Höhe, damit Mitch sich davon überzeugen konnte. »Marge bezahlt hier alles, und Augustine erklärt, ich solle keinerlei Interviews geben. Damit kann ich leben.
Was ist mit dir?«
»Meine Lippen sind versiegelt.«
»Von Küssen?« Kaye stieß ihn mit der Hüfte an.
Benson folgte ihnen in die Tiefgarage. Mit einem Ausdruck unverhohlener Missbilligung sah er zu, wie sie Mitchs Auto beluden.
»Meine Vorstellung von Freiheit liegt Ihnen nicht?«, fragte Kaye den Leibwächter mit spitzbübischer Miene, als sie den Kofferraum zuknallte.
Die hinteren Stoßdämpfer ächzten.
»Sie nehmen alles mit, Ma’am«, erwiderte Benson unbewegt.
»Ihm gefällt nicht, welchen Umgang du pflegst«, sagte Mitch.
»Na ja«, sagte Kaye, die neben Benson stand, und strich sich die Haare zurück, »das liegt daran, dass er ein Mann mit Geschmack ist.«
Benson lächelte. »Sie sind verrückt, hier ohne Schutz wegzufahren.«
»Vielleicht«, erwiderte Kaye. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Geben Sie bitte meine Empfehlungen weiter.«
»Jawohl, Ma’am«, erwiderte Benson. »Viel Glück.«
Kaye umarmte ihn. Benson errötete.
»Fahren wir«, sagte sie dann.
Sie betastete den Türrahmen des Buick, dessen mattblauer Lack im Laufe der Zeit weißlichstumpf geworden war, und fragte Mitch, wie alt der Wagen sei.
»Keine Ahnung«, sagte er. »So etwa zehn, fünfzehn Jahre.«
»Such’ schon mal einen Gebrauchtwagenhändler«, antwortete sie. »Ich kaufe uns einen funkelnagelneuen Landrover.«
»Na gut, das war deutlich«, sagte Mitch und zog eine Augenbraue hoch. »Es wäre mir allerdings lieber, wenn wir nicht so auffallen.«
»Schön wie du das machst«, erwiderte Kaye und hob dramatisch ihre viel weniger eindrucksvolle Augenbraue. Mitch musste lachen.
»Also scheiß drauf«, sagte sie. »Fahren wir mit dem Buick. Wir kampieren draußen unter den Sternen.«
66
Kurz vor Washington, D. C.
Die FalconPassagiermaschine der Airforce rollte sanft Richtung Osten. Augustine nippte an einer Cola und blickte häufig durch das Fenster — Fliegen machte ihn jedes Mal nervös. Das hatte Dicken bisher nicht von ihm gewusst; sie hatten noch nie zusammen in einem Flugzeug gesessen.
»Wir können mit gutem Grund die Auffassung vertreten, dass SHEVASekundärfeten selbst dann, wenn sie die Geburt überleben sollten, die Träger eines breiten Spektrums ansteckender HERVs wären«, sagte Augustine.
»Woher stammen die Belege?«, fragte Jane Salter. Ihr Gesicht war leicht gerötet — die Luft in der Maschine war kurz vor dem Start sehr warm. Sie war von dem ganzen militärischen Brimborium, gelinde gesagt, wenig beeindruckt.
»Zwei Wissenschaftler der Taskforce haben während der letzten zwei Wochen auf meine Anweisung hin Biopsiebefunde zusammengetragen. Ich hatte einfach so eine Ahnung. Wir wissen, dass HERVs unter allen möglichen Bedingungen exprimiert werden, aber die Viruspartikel waren bisher noch nie infektiös.«
»Wir wissen immer noch nicht, welchen Zweck die nichtinfektiösen Partikel haben und ob sie überhaupt zu etwas nütze sind«, entgegnete Salter. Die anderen Mitarbeiter, die jünger waren und weniger Erfahrung hatten, saßen still auf ihren Sitzen und begnügten sich damit, zuzuhören.
»Ein guter Zweck ist es nicht«, erwiderte Augustine und tippte auf seine Armlehne. Er schluckte heftig und sah wieder aus dem Fenster. »Die HERVs produzieren auch weiterhin nichtinfektiöse Viruspartikel … bis SHEVA dann irgendwann das gesamte Werkzeugarsenal liefert, alles was notwendig ist, damit das Virus sich zusammenfinden und aus der Zelle entkommen kann. Ich weiß von sechs Experten, unter anderem von Jackson, dass SHEVA wahrscheinlich anderen HERVs gewissermaßen beibringt, wie man wieder infektiös wird. Am aktivsten sind sie bei Menschen, deren Zellen sich schnell teilen, das heißt bei SHEVAFeten.
Möglicherweise müssen wir uns mit Erregern auseinander setzen, die seit Jahrmillionen nicht mehr aufgetaucht sind.«
»Erreger, die bei Menschen vielleicht keine Krankheiten mehr erzeugen«, sagte Dicken.
»Können wir dieses Risiko eingehen?«, entgegnete Augustine.
Dicken zuckte die Achseln.
»Was werden Sie denn nun empfehlen?«, wollte Salter wissen.
»In Washington herrscht schon Ausgangssperre, und sobald jemand ein Schaufenster einwirft oder ein Auto umstürzt, wird das Kriegsrecht ausgerufen. Keine Demonstrationen mehr, keine provokativen Kommentare … Politiker lassen sich nicht gern lynchen. Das gemeine Volk ist wie eine Kuhherde, und mittlerweile hat es so oft geblitzt, dass sogar die Cowboys nervös werden.«
»Ein unglücklicher Vergleich, Dr. Augustine«, sagte Salter trocken.
»Na ja, ich werde ihn noch ausbauen. In zwanzigtausend Fuß Höhe bin ich nie so ganz in Form.«
»Sie glauben, wir werden das Kriegsrecht bekommen«, sagte Dicken, »und dann können wir alle schwangeren Frauen vorführen lassen und ihre Kinder absondern … zur Untersuchung?«
»Entsetzliche Vorstellung«, räumte Augustine ein. »Die meisten Feten werden sterben, vielleicht sogar alle. Aber wenn sie überleben, können wir uns wahrscheinlich mit der Ansicht durchsetzen, dass sie in Quarantäne genommen werden müssen.«
»Das heißt doch nur Öl ins Feuer gießen«, sagte Dicken.
Augustine stimmte nachdenklich zu. »Ich habe mir lange den Kopf nach einer Alternative zerbrochen. Ich werde auch andere Möglichkeiten in Erwägung ziehen.«
»Vielleicht sollten wir nicht gerade jetzt Staub aufwirbeln«, gab Salter zu bedenken.
»Ich habe derzeit nicht die Absicht, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Die Arbeit geht weiter.«
»Es wäre besser, wenn wir auf sicherem Terrain wären«, sagte Dicken.
»Da haben Sie verdammt Recht«, erwiderte Augustine mit einer Grimasse. »Terra firma, und je eher desto besser.«
67
Kurz hinter Baltimore
»Jeder hat was zu meckern«, meinte Mitch, während sie auf der Staatsstraße Nummer 27 aus der Stadt fuhren. Er hielt sich von den Highways fern; die großen Verkehrswege waren ständig durch Demonstrationen verstopft — Fernfahrer, Motorradfahrer, sogar Fahrradfahrer, alle versuchten sich in zivilem Ungehorsam. Dennoch mussten sie mitten in der Innenstadt zwanzig Minuten warten, bis die Polizei ein paar Tonnen Müll weggeräumt hatte, den protestierende Angestellte der Stadtreinigung dort abgeladen hatten.