Mitch schaltete das Radio ein und hörte von Lichterketten am Kapitol, Feierlichkeiten zu Ehren der toten Senatoren und von der Bestattung der anderen, die bei dem Tumult umgekommen waren. Es gab Berichte über die Impfstoffentwicklung und die Ansicht der Wissenschaftler, die Führungsrolle habe jetzt James Mondavi oder sogar eine Arbeitsgruppe an der Princeton University. Jackson war offenbar aus dem Rennen, und trotz allem, was geschehen war, tat es Kaye Leid für ihn.
Mittags aßen sie im High Street Grill in Morgantown, einem neuen Restaurant, das alt und gut eingeführt aussehen sollte —
Einrichtung im Kolonialstil und Holztische mit einfacher Kunststoffplatte. Das Schild vor der Tür besagte, das Lokal sei »nur wenig älter als das Jahrtausend und viel weniger bedeutend«.
Während Kaye an ihrem ClubSandwich knabberte, beobachtete sie Mitch genau.
Mitch mied den Blickkontakt und sah sich unter den anderen Gästen um: Alle waren stur damit beschäftigt, ihrem Körper Nahrung zuzuführen. Ältere Paare saßen da und schwiegen; ein einsamer Mann hatte seine Wollmütze neben einer Tasse Kaffee auf den Tisch gelegt; in einer Nische stocherten drei junge Mädchen mit langen Löffeln in Eisbechern. Das Personal war jung und freundlich; von den Frauen trug keine eine Maske.
»Hier fühle ich mich fast wie ein ganz normaler Mensch«, sagte Mitch leise und betrachtete die Schüssel Bohneneintopf vor sich.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich ein guter Vater sein könnte.«
»Warum?«, fragte Kaye ebenso leise, als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis.
»Ich habe mich immer auf die Arbeit konzentriert, auf das Vagabundenleben und das Reisen an Orte, die Interessantes versprachen. Ich bin ziemlich egoistisch. Ich hätte nie gedacht, dass eine intelligente Frau mich als Vater ihrer Kinder oder übrigens auch als Ehemann haben wollte. Manche haben mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie nicht deshalb mit mir zusammen waren.«
»Ja, ja«, sagte Kaye. Sie war völlig auf ihn fixiert, als könne jedes Wort die entscheidende Antwort enthalten, die für sie ein großes Rätsel löste.
Die Kellnerin fragte, ob sie noch Tee oder Nachtisch wünschten. Sie lehnten ab.
»Hier ist es so normal«, sagte Mitch und beschrieb mit seinem Löffel einen Bogen, als wollte er das Restaurant ausmessen. »Ich fühle mich wie ein großer Käfer mitten in einem Wohnzimmer von Norman Rockwell.«
Kaye lachte. »Da ist es wieder«, sagte sie.
»Was heißt das, ›Da ist es wieder?‹«
»Als du das gesagt hast. Sofort habe ich gespürt, wie es in mir gezittert hat.«
»Das ist das Essen«, erwiderte Mitch.
»Das bist du.«
»Bevor ich Vater werde, muss ich erst mal Ehemann sein.«
»Es ist sicher nicht das Essen. Ich zittere, Mitch.« Sie streckte die Hand aus, und er legte den Löffel hin, um nach ihr zu greifen. Sie hatte kalte Finger und klapperte mit den Zähnen, obwohl es hier drinnen warm war.
»Ich finde, wir sollten heiraten«, sagte Mitch.
»Eine schöne Idee.«
Mitch schob die Hand nach vorn. »Willst du mich heiraten?«
Kaye hielt einen Augenblick die Luft an. »Du liebe Güte, ja«, erwiderte sie mit einem kurzen Seufzer der Erleichterung.
»Wir sind verrückt, und wir wissen nicht, was uns erwartet.«
»Allerdings«, stimmte Kaye zu.
»Wir sind kurz davor, aus uns etwas ganz Neues, anderes zu machen«, sagte Mitch. »Findest du das nicht beängstigend?«
»Sehr«, erklärte Kaye.
»Und wenn wir Unrecht haben, gibt es eine Katastrophe nach der anderen. Schmerzen. Kummer.«
»Wir haben nicht Unrecht. Sei mein Mann.«
»Ich bin dein Mann.«
»Liebst du mich?«
»Ich liebe dich so, wie ich es bisher nie gekannt habe.«
»So schnell. Unglaublich.«
Mitch nickte begeistert. »Aber ich liebe dich so sehr, dass ich auch ein bisschen Kritik anbringen muss.«
»Ich höre.«
»Es macht mir Sorgen, dass du dich selbst als Labor bezeichnest.
Das hört sich kaltschnäuzig und vielleicht ein bisschen verfehlt an.«
»Ich hoffe, du weißt, was ich damit meine. Was ich sagen und tun will.«
»Kann schon sein«, erwiderte Mitch, »aber nur so ungefähr. Wo wir jetzt sind, ist die Luft ziemlich dünn.«
»Wie auf einem Berg.«
»Ich mag Berge nicht besonders.«
»Ach, ich schon«, erwiderte Kaye. Die Abhänge und weißen Gipfel des Kazbeg fielen ihr ein. »Sie schenken einem Freiheit.«
»Ja, ja«, erwiderte Mitch. »Du springst, und dann hast du dreitausend Meter reine Freiheit.«
Während er die Rechnung bezahlte, ging Kaye zur Toilette. Aus einem Impuls heraus holte sie ihre Telefonkarte und einen Zettel aus der Brieftasche und nahm den Hörer des Kartentelefons ab.
Sie rief Mrs. Luella Hamilton in Richmond in Virginia an. Die Nummer hatte sie sich doch noch von der Telefonzentrale der Klinik besorgt.
Eine tiefe, weiche Männerstimme meldete sich.
»Entschuldigen Sie bitte, ist Mrs. Hamilton zu Hause?«
»Wir sind schon beim Abendessen. Wer spricht denn da?«
»Kaye Lang. Dr. Lang.«
Der Mann murmelte etwas und rief dann: »Luella!« Ein paar Sekunden verstrichen. Stimmengewirr. Schließlich kam Luella Hamilton an den Apparat; ihr Atem klang anfangs keuchend, später aber ruhig und vertraut. »Albert sagt, da ist Kaye Lang, stimmt das?«
»Ich bin’s, Mrs. Hamilton.«
»Na ja, ich bin jetzt zu Hause, Kaye, und ich brauche keine Nachuntersuchung mehr.«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich nicht mehr bei der Taskforce bin, Mrs. Hamilton.«
»Sagen Sie Lu zu mir. Warum denn nicht?«
»Unsere Wege haben sich getrennt. Ich fahre jetzt nach Westen und habe mir Sorgen um Sie gemacht.«
»Das ist nicht nötig. Albert und den Kindern geht’s gut, und ich bin auch ganz in Ordnung.«
»Ich war einfach beunruhigt. Ich habe viel über Sie nachgedacht.«
»Na ja, Dr. Lipton hat mir diese Pillen gegeben, die das Kind schon innendrin tot machen, bevor es groß wird. Sie kennen doch diese Pillen?«
»Ja.«
»Ich habe es keinem gesagt, und wir haben lange überlegt, aber Albert und ich, wir machen weiter. Er sagt, teilweise glaubt er, was die Wissenschaftler sagen, aber nicht alles, und außerdem meint er, ich bin zu hässlich, als dass ich hinter seinem Rücken rummachen könnte.« Sie ließ ein kräftiges, ungläubiges Lachen hören.
»Er versteht nichts von uns Frauen und unseren Möglichkeiten, was, Kaye?« Und dann leise zu jemandem in ihrer Nähe: »Lass’ das. Ich telefoniere.«
»Nein«, sagte Kaye.
»Wir wollen das Kind haben«, erklärte Mrs. Hamilton mit starker Betonung auf dem haben. »Sagen Sie das Dr. Lipton und den Leuten in der Klinik. Was es auch sein mag, es ist unseres, und wir werden ihm die Chance geben, sich durchzukämpfen.«
»Es freut mich, das zu hören, Lu.«
»Wirklich? Sind sie etwa neugierig, Kaye?«
Kaye lachte, aber sie spürte, wie das Lachen ihr im Hals stecken blieb und sich in Weinen zu verwandeln drohte. »Stimmt.«
»Sie wollen das Baby sehen, wenn es da ist, oder?«
»Ich würde Ihnen beiden gern etwas schenken.«
»Das ist aber nett. Warum suchen Sie sich nicht selbst einen Mann und holen sich diese Grippe, dann können wir uns besuchen und vergleichen, Sie und ich, und unsere beiden hübschen Kleinen, okay? Und dann schenke ich Ihnen etwas.« In ihrem Vorschlag schwang keinerlei Ärger, Albernheit oder Widerwille mit.
»Wahrscheinlich tue ich das, Lu.«
»Wir schaffen das schon, Kaye. Vielen Dank, dass Sie sich um mich gekümmert haben, und, Sie wissen schon, dass Sie mich wie einen Menschen und nicht wie ein Versuchskaninchen behandelt haben.«