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Die Hühner laufen pickend und gackernd zwischen den Gasthaustischen hin und her. Ein alter Jagdhund beschnuppert die beiden Gäste und ist mit ihrer Anwesenheit einverstanden.

»Ist dein Vater schon lange tot?« fragt Luise.

»Ich weiß es nicht«, sagt Lotte. »Mutti spricht niemals von ihm - und fragen möcht’ ich nicht gern.«

Luise nickt. »Ich kann mich an meine Mutti gar nicht mehr erinnern. Früher stand auf Vaters Flügel ein großes Bild von ihr. Einmal kam er dazu, wie ich es mir ansah. Und am nächsten Tag war es fort. Er hat es wahrscheinlich im Schreibtisch eingeschlossen.«

Die Hühner gackern. Der Jagdhund döst. Ein kleines Mädchen, das keinen Vater, und ein kleines Mädchen, das keine Mutter mehr hat, trinken Limonade.

»Du bist doch auch neun Jahre alt?« fragt Luise.

»Ja.« Lotte nickt. »Am 14. Oktober werde ich zehn.«

Luise setzt sich kerzengerade. »Am 14. Oktober?«

»Am 14. Oktober.«

Luise beugt sich vor und flüstert: »Ich auch!«

Lotte wird steif wie eine Puppe.

Hinterm Haus kräht ein Hahn. Der Jagdhund schnappt nach einer Biene, die in seiner Nähe summt. Aus dem offenen Küchenfenster hört man die Förstersfrau singen.

Die beiden Kinder schauen einander wie hypnotisiert in die Augen. Lotte schluckt schwer und fragt, heiser vor Aufregung: »Und - wo bist du geboren?«

Luise erwidert leise und zögernd: »In Linz an der Donau!«

Lotte fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich auch!«

Es ist ganz still im Garten. Nur die Baumwipfel bewegen sich. Vielleicht hat das Schicksal, das eben über den Garten hin schwebte, sie mit seinen Flügeln gestreift?

Lotte sagt langsam: »Ich habe ein Foto von. von meiner Mutti im Schrank.«

»Aber.«

»Kein Aber! Die Kinder ahnen nichts. Sie haben sich vorhin fotografieren lassen und werden die Bildchen heimschicken. Wenn sich die Fäden hierdurch entwirren, gut! Doch Sie und ich, wir wollen uns hüten, Schicksal zu spielen. Ich danke Ihnen für Ihre Einsicht, meine Liebe. Und jetzt schicken Sie mir, bitte, die Köchin.«

Fräulein Ulrike macht kein sonderlich geistreiches Gesicht, als sie das Büro verläßt. Übrigens wäre das bei ihr auch etwas völlig Neues.

DRITTES KAPITEL

Neue Kontinente werden entdeckt - Rätsel über Rätsel - Der entzweigeteilte Vorname - Eine ernste Fotografie und ein lustiger Brief - Steffies Eltern lassen sich scheiden - Darf man Kinder halbieren?

Die Zeit vergeht. Sie weiß es nicht besser.

Haben die zwei kleinen Mädchen ihre Fotos beim Herrn Eipeldauer im Dorf abgeholt? Längst! Hat sich Fräulein Ulrike neugierig erkundigt, ob sie die Fotos nach Hause geschickt hätten? Längst! Haben Luise und Lotte mit dem Kopf genickt und »ja« gesagt? Längst!

Und ebensolang liegen dieselben Fotos, in lauter kleine Fetzen zerpflückt, auf dem Grunde des flaschengrünen Bühlsees bei Seebühl. Die Kinder haben Fräulein Ulrike angelogen! Sie wollen ihr Geheimnis für sich behalten! Wollen es zu zweit verbergen und, vielleicht, zu zweit enthüllen! Und wer ihren Heimlichkeiten zu nahe kommt, wird rücksichtslos beschwindelt. Es geht nicht anders. Nicht einmal Lottchen hat Gewissensbisse. Das will viel heißen.

Die beiden hängen neuerdings wie die Kletten zusammen. Trude, Steffie, Monika, Christine und die anderen sind manchmal böse auf Luise, eifersüchtig auf Lotte. Was hilft’s? Gar nichts hilft es! Wo mögen sie jetzt wieder stecken?

Sie stecken im Schrankzimmer. Lotte holt zwei gleiche Schürzen aus ihrem Schrank, gibt der Schwester eine davon und sagt, während sie sich die andere umbindet: »Die Schürzen hat Mutti beim Oberpollinger gekauft.«

»Aha«, meint Luise, »das ist das Kaufhaus in der Neuhauserstraße, beim... wie heißt das Tor?«

»Karlstor!«

»Richtig, beim Karlstor!«

Sie wissen wechselweise schon recht gut Bescheid über die Lebensgewohnheiten, über die Schulkameradinnen, die Nachbarn, die Lehrerinnen und Wohnungen der anderen! Für Luise ist ja alles, was mit der Mutter zusammenhängt, so ungeheuer wichtig! Und Lotte verzehrt sich, alles, aber auch alles über den Vater zu erfahren, was die Schwester weiß! Tag für Tag sprechen sie von nichts anderem. Und noch abends flüstern sie stundenlang in ihren Betten.

Jede entdeckt einen anderen, einen neuen Kontinent. Das, was bis jetzt von ihrem Kinderhimmel umspannt wurde, war ja, wie sich plötzlich herausgestellt hat, nur die eine Hälfte ihrer Welt!

Und wenn sie wirklich einmal nicht damit beschäftigt sind, voller Eifer diese beiden Hälften aneinanderzufügen, um das Ganze zu überschauen, erregt sie ein anderes Thema, plagt sie ein anderes Geheimnis: Warum sind die Eltern nicht mehr beisammen?

»Erst haben sie natürlich geheiratet«, erklärt Luise zum hundertsten Male. »Dann haben sie zwei kleine Mädchen gekriegt. Und weil Mutti Luiselotte heißt, haben sie das eine Kind Luise und das andere Lotte getauft. Das ist doch sehr hübsch! Da müssen sie einander doch noch gemocht haben, nicht?«

»Bestimmt!« sagt Lotte. »Aber dann haben sie sich sicher gezankt. Und sind voneinander fort. Und haben uns selber genauso entzweigeteilt wie vorher Muttis Vornamen!«

»Eigentlich hätten sie uns erst fragen müssen, ob sie uns halbieren dürfen!«

»Damals konnten wir ja noch gar nicht reden!«

Die beiden Schwestern lächeln hilflos. Dann haken sie einander unter und gehen in den Garten.

Es ist Post gekommen. Überall, im Gras und auf der Mauer und auf den Gartenbänken, hocken kleine Mädchen und studieren Briefe. Lotte hält die Fotografie eines Mannes von etwa fünfunddreißig Jahren in den Händen und blickt mit zärtlichen Augen auf ihren Vater. So sieht er also aus! Und so wird es einem ums Herz, wenn man einen wirklichen, lebendigen Vater hat!

Luise liest vor, was er schreibt: »Mein liebes, einziges Kind!« - »So ein Schwindler!« sagt sie hochblickend. »Wo er doch genau weiß, daß er Zwillinge hat!« Dann liest sie weiter: »Hast Du denn ganz vergessen, wie Dein Haushaltungsvorstand aussieht, daß Du unbedingt, noch dazu zum Ferienschluß, eine Fotografie von ihm haben willst? Erst wollte ich Dir ja ein Kinderbild von mir schicken. Eines, wo ich als nackiges Baby auf einem Eisbärenfell liege! Aber Du schreibst, daß es unbedingt ein funkelnagelneues Bild sein muß! Na, da bin ich gleich zum Fotografen gerannt, obwohl ich eigentlich gar keine Zeit hatte, und habe ihm genau erklärt, weswegen ich das Bild so eilig brauche. Sonst, habe ich ihm gesagt, erkennt mich meine Luise nicht wieder, wenn ich sie von der Bahn abhole! Das hat er zum Glück eingesehen. Und so kriegst Du das Bild noch rechtzeitig. Hoffentlich tanzt Du den Fräuleins im Heim nicht so auf der Nase herum wie Deinem Vater, der Dich tausendmal grüßt und große Sehnsucht nach Dir hat!«

»Schön!« sagt Lotte. »Und lustig! Dabei sieht er auf dem Bild so ernst aus!«

»Wahrscheinlich hat er sich vor dem Fotografen geniert, zu lachen«, vermutet Luise. »Vor anderen Leuten macht er immer ein strenges Gesicht. Aber wenn wir allein sind, kann er sehr komisch sein.«

Lotte hält das Bild ganz fest. »Und ich darf es wirklich behalten?«

»Natürlich«, sagt Luise, »deswegen hab’ ich’s mir doch schicken lassen!«

Die pausbäckige Steffie sitzt auf einer Bank, hält einen Brief in der Hand und weint. Sie gibt dabei keinen Laut von sich.