Zweifelnd sah er sie einen Augenblick länger an und versuchte in ihren bildschönen blauen Augen zu lesen. Sie bemerkte es und wandte sich ab. »Komm jetzt, laß uns gehen«, sagte sie.
Sie führte ihn eine Weile schweigend nach Norden und hielt sich dabei unmerklich links. Das Blätterdach des Waldes sperrte das Mondlicht aus, trotzdem fand Geist ohne Mühe den richtigen Weg. Alberich hatte das Gefühl, ihr trauen zu können. Sie mochte eine Menge wirres Zeug reden, doch zumindest was ihren Orientierungssinn anging, schien sie die Wahrheit gesagt zu haben.
Nach einer Weile lichtete sich der Wald erneut, und sie kamen an eine steile Felskante. Tief, tief unter ihnen strömte der Rhein durch die Nacht. Der Schein des Mondes brach sich auf seinen schwarzen Wellen wie zahllose Silbermünzen. Ein scharfer Wind strich um die Felsen.
Alberich mußte sich zu seiner Schande eingestehen, daß er seit seinem unvermittelten Schlaf im Wald tatsächlich in die falsche Richtung gelaufen war. War das auch der unheimlichen Melodie aus seinen Träumen zu verdanken? Hatte sie ihn zum Drachen führen wollen?
Nein, rief er sich zur Ruhe, das ging zu weit. Natürlich, das Horn war magisch, daran bestand kein Zweifel, und die Melodie mochte eine Folge davon sein. Aber ihn zum Drachen führen? Unmöglich.
Als wüßte sie genau, was in seinem Köpf vorging, sagte Geist plötzlich: »Das Horn bringt Unglück.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe gehört, wie du hineingestoßen hast. Mehrmals. Ich hatte große Schmerzen.«
»Das tut mir leid.« Verflucht, was war los mit ihm? Zwerge baten nicht um Verzeihung, ganz bestimmt nicht bei rotznasigen Menschenmädchen, die sich verrückte Krankheiten ausdachten.
Er folgte ihr schweigend an der Felskante entlang und betrachtete sie dabei von hinten. In ihren hellen Verbänden sah sie gleichzeitig filigran und albern aus. Noch dazu bot sie schon von weitem eine großartige Zielscheibe; selbst im Dunkeln war sie nicht zu übersehen. Die Binden lagen eng um ihren Leib. Darunter war sie schlank, fast knochig, und ihre Brust war so klein, das sie nahezu unsichtbar blieb - ganz anders als die der stämmigen Zwergenfrauen, wie Alberich sich nicht ohne Wehmut erinnerte. Aber die Tage, in denen ihm so etwas bedeutungsvoll erschienen waren, waren längst vom Dunst der Vergangenheit verhüllt. Nur selten in all den einsamen Jahren hatte Alberich sich nach Gesellschaft gesehnt, und noch viel seltener nach weiblicher.
Gerade umrundeten sie einen pockennarbigen Findling, der scheinbar gewichtslos auf der Felskante balancierte, als Geist ihn unvermittelt zurückhielt. »Langsam«, warnte sie im Flüsterton. »Von der anderen Seite aus kannst du sie sehen - und sie dich, wenn du nicht achtgibst.«
Vorsichtig pirschten sie soweit um den riesigen Stein herum, bis seine Rundung den Blick auf eine weite Heide freigab, die oberhalb einer scharfkantigen Klippe lag. Rückwärtig endete sie an einer aufstrebenden Felswand, in der eine pechschwarze Höhlenöffnung gähnte, flankiert von hohen Lindenbäumen - der Zugang zum Nest des Untiers.
Kurz vor dem Rand der Klippe lag im Schein vieler Fackeln der Drache selbst, und sein Anblick übertraf Alberichs Erwartungen bei weitem. So groß! war alles, was er für eine Weile denken konnte, und immer wieder: so groß!
In der Tat war die Bestie gewaltig. Ihr riesiger geschuppter Leib lag verdreht im verkohlten Heidekraut, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken. Ihre mächtigen Pranken, jede so groß wie ein Pferd, hatten sich im Todeskampf verkrallt und mannstiefe Furchen in den Boden gerissen. Die gespaltene Zunge, länger als der höchste Baum, hing schlaff und verschlungen aus einem Maul, das dem Höhlenloch an Größe kaum nachstand. Alberich begriff, daß das Horn, das er am Hals trug, aus einem der kleinsten Zähne des Drachen gefertigt worden war, denn die Eckzähne der Bestie waren so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Sie waren auch die einzigen, die man dem Kadaver gelassen hatte; alle anderen waren aus dem Zahnfleisch gemeißelt und zu Hörnern verarbeitet worden. Überall im Maul klafften Spalten und Wunden.
Das Furchtbarste aber waren nicht der Schlund oder die schlangengleiche, dreieckige Form des Schädels, der zu Lebzeiten vorstoßen konnte wie der schnellste Armbrustbolzen; vielmehr waren es die Augen der Bestie, die ihm das höchste Grauen einjagten. Sie waren weit aufgerissen und glänzten, als könnten sie jeden Moment zu neuem Leben erwachen. Die gelben Pupillenschlitze der pechschwarzen Augäpfel schienen genau in Alberichs Richtung zu blicken, und dabei war ihr Ausdruck so gemein und mörderisch, daß der Zwerg eine Weile lang glaubte, er müsse sich sofort herumwerfen und fliehen.
Geist hob die Hand, um sie ihm zaghaft auf die Schulter zu legen, besann sich aber im letzten Augenblick anders. Ihre umwickelten Finger sanken zurück. »Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte sie sanft. »Er ist tot.«
»Das weiß ich«, gab er giftig zurück, wenn er auch nicht verhehlen konnte, daß sie seinen wunden Punkt ganz richtig erkannt hatte. Der Drache sah aus, als sei er noch am Leben, er wirkte nicht einmal, als schliefe er. Vielmehr schien es Alberich, als loderte hinter den gelben Pupillen eine lauernde, tückische Intelligenz, die sich aus irgendeinem Grund entschlossen hatte, eine Weile lang alle Erniedrigungen über sich ergehen zu lassen, um dann ganz unvermittelt zuzuschlagen.
Doch welcher Drache würde zulassen, daß man ihm die Zähne aus den Kiefern stemmte?
Das Untier mußte tot sein.
Es dauerte ein wenig, aber schließlich fand Alberich sich damit ab, daß die größte Gefahr nicht von dem Drachenkadaver, sondern von den zwei Dutzend Kriegern ausging, die emsig über die verbrannte Heide schwärmten. Einige standen Wache, einer ganz in ihrer Nähe, aber die anderen umringten den Leichnam und ein Gebiet gleich daneben, wo der Boden von einer schwarzen Schlammschicht bedeckt war.
Das ist kein Schlamm! schoß es Alberich durch den Kopf. Es ist Blut. Der Blutsee des Drachen! Aber warum wirkte seine Oberfläche aus der Ferne so starr? Er war doch nicht etwa -
»Eingetrocknet!« flüsterte er tonlos und ihm war, als bräche der Himmel über ihm zusammen. »Er ist eingetrocknet!«
War das wirklich so verwunderlich, nach all den Wochen, die seit dem Tod der Bestie vergangen waren? Löwenzahn und Mütterchen hatten ihre Freiheit - und vielleicht gar ihr Leben - für einen falschen Traum vergeudet.
Doch da wisperte Geist: »Das Blut ist nicht eingetrocknet.«
»Nicht?« fragte er und versuchte, dem Wort einen höhnischen Klang zu geben. »Sieh doch, sie schlagen sogar mit Hacken darauf ein.« Das taten sie tatsächlich, wenn auch lustlos und ungezielt, dafür aber gleich an mehreren Stellen. Und nicht nur das hartgewordene Blut wurde mit Gewalt bearbeitet, auch der Drache selbst; rund um die klaffende Bauchwunde, die Siegfrieds Schwert Balmung der Bestie beigebracht hatte, hämmerten mehrere Sklaven unter der Aufsicht von Drachenkriegern auf den Kadaver ein. Doch Beile und Meißel glitten ab, ohne etwas auszurichten. Auch die Haut des Drachen war so hart wie Stahl. Trotzdem trieben die Krieger die Sklaven immer heftiger zu neuen Versuchen an, als brüllten sie sich so ihren Zorn und ihre Enttäuschung von der Seele. Und das sollte schon seit Wochen so gehen?
»Der Leichnam versteinert allmählich«, flüsterte Geist in Alberichs Ohr. »Ich habe gelauscht, als sich einige der Krieger darüber unterhielten. Sie vermuten, daß sich auf dem Blutsee nur eine feste Kruste gebildet hat, genau wie auf einer Wunde, daß aber die unteren Schichten noch flüssig sind. Wie es scheint, versuchen sie nun von unten heranzukommen?«
»Wie das?«
»Sieh mal nach vorne, zum Rand der Klippe.«
Alberich mußte sich dafür weit aus ihrem Versteck beugen, was ihm keineswegs behagte. Er sah, daß kurz vor dem Abgrund eine Seilwinde aufgebaut war. Feste Stricke spannten sich straff über die Kante hinweg in die Tiefe. Von hier aus konnte er jedoch nicht sehen, wohin sie führten.