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Einige Stunden mochten vergangen sein, als ein weiteres Mal Gestalten vor der Gittertür erschienen. Im Gegenlicht der Feuerbecken waren es nur Silhouetten, zwei an der Zahl. Dennoch bereitete es keine Schwierigkeiten, die kleine fette Gestalt des Grafen Ugo zu erkennen. An seiner Seite führte er, an einer rasselnden Kette wie einen Hund, das Mädchen Marret. Sie schluchzte leise, folgte dem Fetten aber fügsam und treu.

Ugo, der von nahem kleiner und jünger wirkte als oben am Fenster, trug sein Nachtgewand. Einstmals war es wohl weiß gewesen, doch jetzt war der Stoff beschmutzt von Flecken alle Art, von Essensresten bis zu Körpersäften. Sein Gestank überlagerte sogar die fauligen Gerüche des Kerkers.

Wortlos, wenn auch leise vor sich hin kichernd, zog er einen großen Schlüssel hervor und steckte ihn in das Vorhängeschloß. Ehe er ihn drehen konnte, fiel Marret plötzlich auf die nackten Knie.

»Bitte, Herr Graf, laßt mich bei Euch bleiben. Ich war immer gut zu Euch und will es auch weiterhin sein.«

»Gut?« keifte der Fette. Mehrere Krieger drehten sich draußen auf dem Hof nach ihm um, verloren aber schnell ihre Neugier. Keiner kam näher. »Gut willst du gewesen sein? Ein Stück Fleisch bist du, rohes, grobgehauenes Fleisch. Dein Leiden bereitet mir kaum noch Freude.«

Marret mißverstand ihn. »Dann wollt Ihr bald schon freundlich zu mir sein, Herr Graf? Kein Leiden mehr? Werden wir wieder Freunde sein wie früher?« Und dann sang sie mit tränenerstickter Stimme:

Petersilje Suppenkraut

Wächst in unserm Garten.

Unser Annchen ist die Braut,

Soll nicht lang mehr warten.

Roter Wein, weißer Wein,

Morgen soll die Hochzeit sein.

Ugo holte mit seinem dicken, kurzen Bein aus und trat ihr mit aller Kraft in die Seite. Marret fiel in den Schmutz, krümmte sich keuchend zusammen. Der fette Junge setzt nach, trat ihr in den Magen und riß sie dann an den Haaren nach oben. Sie wehrte sich nicht, weinte nur bitterlich.

»Jetzt flennst du wieder, Miststück. Ich habe auch geweint in meinem Gefängnis, viele, viele Nächte lang. Aber hast du mich rausgelassen? Hast du mir geholfen?«

Marret brabbelte irgendeine Antwort. Das einzige, was Mütterchen verstehen konnte, war das unvermeidliche »gut zu Euch«.

Mütterchen unterdrückte mit aller Macht den Wunsch, dem widerwärtigen Kerl an die Kehle zu gehen. Das Gitter schützte ihn sicherer als jede Kriegereskorte.

Dabei wurde ihr zum ersten Mal bewußt, daß Ugo gar keine Krieger bei sich hatte. Konnte es sein, daß der Geweihte gar nicht wußte, daß seine Marionette auf eigene Faust hierhergekommen war?

Ganz langsam, unter aller gebotenen Ruhe, näherte sie sich der Gittertür. Der Schlüssel steckte noch immer im Schloß.

»Miststück! Miststück!« wetterte Ugo weiter und hatte dabei den Rücken zum Gitter gewandt. Mit wedelnden Armen blickte er auf Marret herab, die immer noch vor ihm im Dreck lag. »Rohes Fleisch bist du. Rohes, unbehauenes Fleisch. Mich ekelt davor, dich zu berühren.« Plötzlich stand er nur noch auf einem Bein und hatte alle Mühe, sein Gleichgewicht zu halten. »Siehst du? Mein Fuß, mit dem ich dich trat, er schmerzt vor Ekel! O wie er schmerzt!«

Mütterchen war bis auf zwei Schritte an die Gittertür herangekommen und streckte ganz langsam den Arm nach dem Vorhängeschloß aus. Noch ein Schritt.

Ugo hob die Hand, die das Ende von Marrets Kette hielt. »Ich werd’ dich lehren, mir Ekel zu bereiten!« schrie er und wollte die Kette in Marrets Gesicht schlagen.

Im selben Augenblick sprang Löwenzahn von seinem Lager auf, stieß Mütterchen beiseite, krachte gegen das Gitter und ließ seinen Arm hinausschießen. Es gelang ihm, Ugos nach hinten ausholende Hand zu packen. Der fette Junge schrie auf.

Mütterchen fluchte und rappelte sich vom Boden auf. Fast hatte sie den Schlüssel gehabt! Mußte der Riese ausgerechnet jetzt den Helden spielen? Bald schon würden zwanzig Krieger am Gitter sein, um dem Grafen beizustehen.

Vielleicht, wenn sie schnell genug war, mochte sie den Schlüssel vorher packen und -

Doch soweit kam sie nicht mehr.

Im selben Moment ging der erste der drei Seilzüge in Flammen auf. Einen Herzschlag später der zweite, fast gleichzeitig der dritte. Innerhalb eines Atemzugs brach Panik aus. Der Innenhof verwandelte sich in ein einziges Chaos aus Geschrei und trampelnden Menschen. Das lauteste Brüllen aber drang aus den drei Gruben empor. Flammenregen ergoß sich von den Seilzügen in die Löcher und verbrannte die Arbeiter bei lebendigem Leibe.

Vor Schreck entglitt Löwenzahn Ugos Arm.

»Der Drache!« schrie der Junge und schien die Attacke des Riesen noch im selben Augenblick zu vergessen. Er ließ Marrets Kette fallen und sprang in wildem Freudentaumel auf und ab. »Sie sind auf eine Feuerader gestoßen! Endlich! Endlich Feuer!«

Mütterchen verschwendete keine Zeit damit, sich über das Gestammel des Wahnsinnigen zu wundern. Sie sprang vor und streckte die Hand durchs Gitter nach dem Schlüssel aus.

Marret war schneller. In Windeseile war das Mädchen heran und zog den Schlüssel aus dem Vorhängeschloß.

»Marret, verdammt!« rief Mütterchen. »Gib ihn her!«

Aber das Mädchen, die Augen vom Irrsinn verschleiert, schwenkte den Schlüssel in der Hand und rief dem hüpfenden Ugo zu: »Herr Graf, Ihr habt Euren Schlüssel vergessen! Hier, Euer Schlüssel, Herr Graf!«

Mütterchen brüllte vor Wut, und auch Löwenzahn begann wie ein wildgewordenes Tier an den Stangen zu rütteln. Es war offensichtlich, daß Marret gar nicht wußte, was sie tat. Sie winkte nur weiter mit dem Schlüssel, ging aber in die Knie, weil die Schmerzen von Ugos Tritten sie abermals überkamen.

Der irre Graf beachtete sie nicht. Er hatte nur Augen für den Hexenkessel, in den sich der Hof der Festung in Windeseile verwandelte. Angst und Kreischen breiteten sich schneller aus als das Feuer rund um die Seilwinden. Die Flammen rasten an den Stricken entlang in die Tiefe, aber auch nach rechts und links zu den Verankerungen am Boden und in den Mauern. Die Drachenkrieger mühten sich vergeblich, die Sklaven unter ihre Knute zu zwingen. Schon erhoben sich die ersten Arbeiter gegen ihre Peiniger. Es war, als wäre ein Bann von den geknechteten Männern und Frauen gewichen. Einige standen umher, als wüßten sie gar nicht, wie sie an diesen Ort gekommen waren.

Mütterchen erinnerte sich schmerzlich an das, was der Geweihte ihr selbst angetan hatte, das tückische Tasten und Fühlen in ihrem Geist. War seine Macht groß genug, Hunderte von Sklaven in seine Gewalt zu zwingen?

»Marret, gib den Schlüssel her!« rief sie wieder und versuchte vergeblich, durch die Stäbe nach dem Mädchen zu greifen. Marret stand einen knappen Schritt zu weit entfernt. Der Glanz der Flammen brach sich auf der Oberfläche des Schlüssels. Das Mädchen hob ihn vors Gesicht und betrachtete ihn eingehend.

»Euer schöner Schlüssel, Herr Graf!« weinte sie und versuchte vergeblich, wieder auf die Beine zu kommen. »Laßt uns damit spielen, Herr Graf!«

Ugo aber taumelte von ihr fort in die Richtung der Seilwinden. Ein Krieger entdeckte ihn und wollte auf ihn zustürzen, doch ein anderer hielt ihn an der Schulter zurück, schüttelte den Kopf und deutete zum Wehrgang auf der Mauer, auf einen Punkt geradewegs über dem Kerker. Mütterchen konnte vom Gitter aus nichts erkennen; wohl aber bemerkte sie, daß auch von anderen Stellen des Hofes die Drachenkrieger auf eine Treppe zurannten, die hinauf zu den Zinnen führte.

»Marret!« schrie sie so laut sie nur konnte, denn der Lärm auf dem Hof war ohrenbetäubend.

Zum ersten Mal fruchteten ihre verzweifelten Mühen. Das Mädchen erkannte seinen Namen und wandte zögernd den Kopf zum Gitter.