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»Ja, bitte?« fragte sie leise.

»Gib mir den Schlüssel!«

»Aber er gehört nicht dir.«

»Ich brauche ihn.«

»Er gehört Klein-Ugo.«

Mütterchen zwang sich zur Ruhe, was nicht leicht war in Anbetracht des Umstands, daß Löwenzahn neben ihr wie ein zorniger Stier gegen die Stäbe rannte. Sie erkannte jetzt auch den Grund: Funkenflug war durch das Gitter hereingeweht und hatte im hinteren Teil des Verlieses das Stroh in Brand gesetzt. Ein kleines, aber rasch anwachsendes Feuer züngelte über den Boden.

»Marret, noch einmaclass="underline" Gib mir den Schlüssel, oder wir werden bei lebendigem Leibe verbrennen.«

Marret schlug die Augen nieder. »Ugo hat mich auch manchmal verbrannt. Das war nicht schön.«

»Den Schlüssel!«

»Und wenn Ugo ihn wiederhaben will?«

Die Feuersbrunst wuchs beständig an, fraß sich jetzt schon aufs Gitter zu.

»Ugo will ihn nicht mehr haben. Er hat ihn dir geschenkt.«

»Wirklich?«

»Aber ja doch. Sieh nur, da läuft er fort.« Mütterchen deutete mit zitternder Hand auf den Jungen, der zwischen den brennenden Seilwinden einhertaumelte, umgeben vom Gewimmel der Sklaven und Krieger.

»Das stimmt«, stellte Marret fest.

»Und wenn der Schlüssel dir gehört, kannst du damit tun, was du willst.« Mütterchen spürte die Hitze in ihrem Nacken. Die Flammen kamen immer näher. Löwenzahn sprang um sie herum und schabte mit dem Fuß das glimmende Stroh beiseite. Ein aussichtsloses Unterfangen.

»Gehört mir«, wiederholte Marret nachdenklich.

»Du willst doch nicht, daß mein Freund und ich verbrennen, nicht wahr? Also gib mir den Schlüssel, damit wir hier raus können.«

Noch hatten die Krieger anderes zu tun, als ihre Gefangenen zu beachten, aber jeden Augenblick mochte einer von ihnen erkennen, daß am Gitter ein Fluchtversuch im Gange war. Derweil ertönte von oberhalb der Mauer, fast genau über dem Kerker, das Klirren von Schwertern, die heftig aufeinanderprallten. Über eine Holztreppe, zwanzig Schritte weiter rechts, rannten immer mehr Krieger zum Wehrgang empor. Auf den Stufen entstand ein regelrechtes Gedränge. Eine ganze Heerschar von Feinden mußte die Mauer über dem Verlies erstürmt haben.

Ein blechernes Prasseln ertönte, als ein toter Krieger unweit des Gitters zu Boden krachte. Er war mit gespaltenem Helm vom Wehrgang gefallen. Zwei weitere folgten. Einer verfehlte die am Boden kauernde Marret nur um Armeslänge. Sein Kopf war durch einen Schwertstreich fast von den Schultern getrennt und glotzte Mütterchen aus glänzenden Augen an.

Die vorderen Flammen waren jetzt nur noch eine Handbreit von Mütterchens und Löwenzahns Füßen entfernt. Marret starrte abwechselnd den Schlüssel, das Feuer und den umherspringenden Ugo an. Dann traf sie ihre Entscheidung.

»Hier!«

Mütterchen nahm ihr den Schlüssel mit zittrigen Fingern ab und steckte ihn ins Schloß. Augenblicke später ließ sich die Kette lösen. Das Gittertor schwang auf, und die beiden Gefangenen taumelten ins Freie.

Einige Atemzüge vergingen, in denen sie sich orientierten. Als Mütterchen sich umsah, erreichten die Flammen das Gitter. Spätestens jetzt mußten die Krieger auf sie aufmerksam werden.

»Los, wir müssen weg von hier!« rief Mütterchen dem Riesen zu. Löwenzahn packte die verwirrte Marret, klemmte sie sich unter den Arm und rannte los. Das Mädchen leistete keinen Widerstand, ließ alles willig mit sich geschehen.

»He, ihr!« brüllte ein Krieger und wandte sich ihnen zu. Über eine Entfernung von zehn Schritten kam er auf sie zu, in jeder Hand ein Kurzschwert.

Löwenzahn sah sich verzweifelt nach einer Waffe um. Das Schicksal meinte es gut mit ihm, denn im gleichen Moment stürzte ein weiterer Toter von den Zinnen herab, landete unweit der Gefährten am Boden. Löwenzahn setzte Marret ab, sprang vor und packte das Schwert des Leichnams. Mütterchen suchte ebenfalls nach einer Waffe, fand aber nur das Horn am Hals des Mannes. Sie ließ es hängen und kratzte statt dessen eine Handvoll Schmutz vom Boden. Während sich Löwenzahn dem Angreifer entgegenwarf, formte sie vier Kügelchen aus feuchtem Schmutz. Zwei steckte sie sich selbst in die Ohren, zwei preßte sie der willenlosen Marret in die Ohrmuscheln.

Mit heftigen Attacken trieb der zornige Koloß den Drachenkrieger zurück zur Mauer. Einen Augenblick später hieb er ihm die Klinge durchs Schlüsselbein hinab in die Brust. Schweigend brach der Krieger zusammen und starb.

Die Schlacht im Hof zwischen Sklaven und Kriegern war in ihrem Gewimmel so unübersichtlich, daß nicht auszumachen war, welche Seite die Oberhand gewann. Zwar kämpften die Krieger unter voller Bewaffnung und waren durch Helme und Brünnen geschützt, doch die Sklaven waren ihnen an Zahl um ein Vielfaches überlegen. Immer wieder gingen einzelne Drachenkrieger unter dem bloßen Ansturm von Körpern zu Boden. Überall tobten Duelle zwischen den Männern des Geweihten und verzweifelten Sklaven, die die Waffen der Toten ergriffen hatten. Einige der Drachenkrieger trugen Hörner, doch niemand machte Anstalten, sie einzusetzen. Ihr Meister mußte klare Befehle gegeben haben.

Mütterchen rief Löwenzahn zu, sich ebenfalls feuchte Erde in die Ohren zu stopfen. Er tat es, wenn auch widerwillig, dann liefen sie gemeinsam in die Richtung des Haupttors. Der Riese zog die stolpernde Marret hinter sich her.

Plötzlich blieb Mütterchen stehen. Sie wußte noch immer nicht, wem sie das Chaos zu verdanken hatten. Neugierig fuhr sie herum und blickte hinauf zu den Zinnen, in der Erwartung, ein feindliches Heer zu erblicken, das über die Wehrgänge quoll.

Dort aber stand, einsam und grimmig im Ansturm der Drachenkrieger, ein einzelner Mann.

Mütterchen fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen, als sie ihn erkannte.

»Der Rabengott!« entfuhr es ihr fassungslos.

Auch Löwenzahn starrte beeindruckt zur Mauer empor. Der Anblick verschlug ihm die Sprache.

Schwarz wehte der lange Mantel des Gottes im Wind, und grausam wütete sein Schwert unter den Kriegern des Geweihten. Der Langbogen, mit dem er die Seilwinden in Brand geschossen hatte, lag achtlos am Boden. Die langen Rabenfedern an seinen Schultern flatterten wie lebende Vogelschwingen. Aufgrund der Enge konnten ihm immer nur zwei zugleich entgegentreten. Vor ihm türmte sich bereits ein Wall aus Toten und Verwundeten auf, den er geschickt als Schutz für sich zu nutzen wußte. Und immer noch schlug und hackte seine Klinge, ließ Brustpanzer bersten und Helme zerspringen. Bereits ein gutes Dutzend Männer mußte seiner Wut zum Opfer gefallen sein, und immer noch kamen mehr und mehr die Stufen heraufgestürmt, kletterten über die Leichen ihrer Kameraden und drangen auf den Kämpfer ein.

In Mütterchens Kopf herrschte eine unheimliche Stille. Durch die Erdbrocken in ihren Ohren nahm sie nichts wahr; alles, was sie hörte, war das Rauschen ihres eigenen Blutes, ihr Pulsschlag und das aufgeregte Wummern ihres Herzens. Die Schlacht um sie herum erschien ihr immer unwirklicher, und das Auftauchen des Rabengottes verstärkte diesen Eindruck. Ihr war, als stolperte sie durch einen blutrünstigen Traum.

Unterhalb der Mauer hatte eine Reihe von Armbrustschützen Aufstellung bezogen. Sorgfältig legten sie auf den schwarzen Kämpen oben auf den Zinnen an. Dann zuckten die Bolzen empor.

Alle bis auf einen schlugen in einen verwundeten Drachenkrieger, den der Kämpfer im letzten Augenblick als Schutzschild vor den eigenen Körper riß. Eine Stahlspitze aber durchschlug das Bein des Toten und bohrte sich dahinter in den Oberschenkel des Rabengottes.

»Er ist kein Gott«, flüsterte Mütterchen gebannt. Ihrer Ehrfurcht aber tat das keinen Abbruch; was für ein Mensch nahm es freiwillig mit solch einer Übermacht auf?

Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Löwenzahn rannte plötzlich auf sie zu, stieß sie grob an und bedeutete ihr stumm, zum Tor zu laufen. Marret war noch immer hinter ihm, ihr Handgelenk in seiner Faust, mit unglücklicher Miene und dem Glanz der lodernden Feuer in den Augen.