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Wolfgang Hohlbein

Das Druidentor

Roman

Knaur

ISBN: 3426618672

1

Im Inneren des Gridone. 18.15h. Wenigstens war es das vor einigen Sekunden noch gewesen. Jetzt war es 18.14h. Eindeutig. Der Zeiger hatte sich rückwärts bewegt.

Hauptmann Veith Rogler von der Kantonspolizei Tessin starrte verblüfft auf den verschnörkelten Zeiger, der sich gerade auf so unmögliche Weise bewegt hatte, klappte den Deckel der Taschenuhr zu, schüttelte sie ein paarmal und hielt sie dann ans Ohr. Er hörte nichts, ausgenommen vielleicht das feine Singen des Federwerkes, das seit beinahe einem Menschenalter seinen Dienst so präzise und zuverlässig getan hatte, wie man es von einer Schweizer Uhr erwarten konnte. Aber als er den Deckel wieder aufklappte und zum zweiten Mal auf das Zifferblatt sah, hatte sich das seltsame Bild nicht geändert.

Rogler sah blinzelnd auf das zerkratzte Glas hinunter, das im Licht der starken Taschenlampe funkelte und blitzte wie eine Mondlandschaft aus Kristall. Trotzdem konnte er deutlich sehen, wie sich der Zeiger weiterbewegte und nun 18.13h anzeigte.

Die Uhr lief rückwärts, kein Zweifel. Und das war einigermaßen komisch. Die silberne Taschenuhr war ein Erbstück seines Vaters, älter als Rogler selbst, der mit seinen mittlerweile knapp achtundvierzig Jahren auch schon alles andere als ein junger Mann war, und er hatte im Grunde schon lange damit gerechnet, daß sie endlich ihren Dienst quittierte. Schweizer Präzision oder nicht, selbst das robusteste mechanische Herz schlug nicht ewig. Es überraschte ihn nicht einmal besonders, daß es ausgerechnet jetzt geschah, denn Murpheys Gesetz zufolge passierten die Dinge ja immer im ungünstigsten aller denkbaren Augenblicke. Was ihn verwirrte, war die Art und Weise. Er hatte noch nie davon gehört, daß eine Uhr plötzlich rückwärts lief. Bisher hatte er nicht einmal gewußt, daß das überhaupt möglich war. Andererseits - er war kein Uhrmacher. Und er hatte im Moment auch wahrlich Wichtigeres zu tun, als sich den Kopf über die Marotten einer sechzig Jahre alten Taschenuhr zu zerbrechen.

Seufzend klappte Rogler die Uhr endgültig zu und versenkte sie in die Tasche seiner makellos gebügelten Uniformjacke. Genaugenommen war es nicht seine Jacke, sondern die eines Kollegen aus Ascona, dem ganz genau genommen auch dieser Fall hier zugestanden hätte - falls es sich überhaupt um eine polizeiliche Angelegenheit handelte.

Rogler bezweifelte dies ohnehin. Zum einen aus purem Ärger - er war nach Ascona gekommen, um Urlaub zu machen, der schließlich auch einem Beamten dann und wann zustand, allen dummen Witzen und Vorurteilen zum Trotz. Und neben allem anderen gab es noch einen großen Unterschied zwischen einem Fernseh- und einem richtigen Polizeibeamten: im allgemeinen bereitete es ihnen nicht unbedingt großes Vergnügen, im Urlaub mal eben noch einen Kriminalfall zu lösen.

Vor allem, wenn es keiner war. Rogler, der seit einer Viertelstunde frierend in einer dunklen, zugigen Höhle stand, fragte sich zum wiederholten Male, was er hier eigentlich tat. Dies war eine Geschichte für die Eisenbahnbehörde oder das Bauamt oder wer zum Teufel auch immer verantwortlich war, wenn mit einem Zug irgend etwas nicht stimmte, der in einem Tunnel festsaß.

In der Dunkelheit weit vor ihm tauchte ein Licht auf. Es war nicht sehr groß, und es wuchs auch kaum sichtbar heran, während es näherkam - das aber sehr rasch und begleitet von einem surrenden Geräusch, das Rogler veranlaßte, mit einem Schritt von dem Schienenstrang herunterzutreten, dem er vom Tunneleingang hierher gefolgt war. Er wußte natürlich, daß es übertrieben war, aber mit einem Mal hatte er die Vision eines unbeleuchteten Schnellzuges, der durch den Tunnel herangebraust kam und ihn überrollte.

Was nach einiger Zeit im Streulicht des einzigen Scheinwerfers schemenhaft sichtbar wurde, war dann allerdings kein Schnellzug, sondern die Neunziger-Jahre-Version einer Draisine: ein flaches, auf sechs wuchtigen Eisenrädern rollendes Gefährt, das an Stelle von einer Schwingkurbel nahezu lautlos von einem Elektromotor angetrieben wurde, der in einem rechteckigen Kasten in seiner Mitte untergebracht war. Auf der Plattform standen nur zwei Männer, obwohl sie bequem Platz für ein Dutzend geboten hätte. Der eine bediente die Kontrollen und brachte das Fahrzeug dicht vor Rogler zum Stehen, der zweite richtete eine Taschenlampe auf ihn und winkte.

Roglers Laune sank um einige weitere Grade, als das grelle Licht wie mit Nadeln in seine seit einer Viertelstunde an die Dunkelheit gewöhnten Augen stach. Geblendet hob er die Hand vor das Gesicht und versuchte, wenigstens so viel zu erkennen, um mit heiler Haut die Draisine zu erreichen und hinaufzusteigen. Die hilfreich ausgestreckte Hand des Mannes mit der Taschenlampe ignorierte er.

»Kommissar Rogler?« fragte der Mann. Für eine Sekunde richtete er den gebündelten Lichtstrahl direkt auf Roglers Gesicht, so daß dieser nun wirklich gar nichts mehr sah und eine Grimasse zog. Dann senkte er die Taschenlampe, die nun einen scharf begrenzten Kreis fast weißer Helligkeit auf den Boden zwischen ihm und Rogler zeichnete. Die Schwärze jenseits dieses Kreises schien dadurch eher noch tiefer zu werden.

»Der bin ich«, antwortete Rogler. Er gab sich Mühe, nicht allzu unfreundlich zu klingen. Letztendlich konnte der Mann nichts dafür, daß sein Urlaub an diesem Morgen mit einem energischen Klopfen an der Tür seines Hotelzimmers ein zumindest vorläufiges Ende gefunden hatte. »Und Sie sind...?«

»Lensing. Klaus Lensing - aber das müssen Sie sich nicht merken. Ich soll Sie nur abholen.«

Die Draisine setzte sich schon wieder in Bewegung und begann den Weg zurückzufahren, den sie gekommen war. Der Scheinwerfer an ihrem Ende erlosch, dafür glomm auf der anderen Seite ein blasses, gelbliches Licht auf, in dem der Schienenstrang rasch zu einem silbern verschwimmenden Schatten wurde. Rogler registrierte mit sanfter Überraschung, wie schnell das kleine Fahrzeug war. Der Tunneleingang schmolz schon nach Augenblicken zu einem verwaschenen Lichtfleck zusammen und verblaßte schließlich ganz. Rogler mußte ein Schaudern unterdrücken. Es war kalt hier drinnen, empfindlich kalt. Sein Atem erschien als feiner Dunst im Licht der Taschenlampe. Aber das war nicht der wirkliche Grund für den eiskalten Schauder, der ihm über Nacken und Rückgrat lief. Er hatte sich nie vor der Dunkelheit oder engen Räumen gefürchtet, aber hier, in diesem scheinbar endlosen, nachtschwarzen Stollen, begann er diese Furcht kennenzulernen.

Eigentlich nur, um diese irrationalen Gedanken nicht noch stärker werden zu lassen, fragte er: »Was ist passiert?«

»Hat man Ihnen das nicht gesagt?« fragte Lensing überrascht. Zugleich klang er beinahe enttäuscht, fand Rogler.

»Dann würde ich nicht fragen, oder?« Diesmal hatte er laut genug gesprochen, daß man ihm seinen Ärger anhörte, und er konnte sehen, wie Lensing zusammenfuhr. Um seinen Worten wenigstens im nachhinein noch ein wenig Schärfe zu nehmen, fügte er etwas leiser hinzu: »Nur, daß irgend etwas mit dem Zug nicht in Ordnung wäre. Nicht was. Der Kollege, der mich aus dem Hotel abgeholt hat, wußte nichts Genaues - oder wollte nichts sagen. Es ist einer von diesen deutschen Superzügen, nicht wahr?«

Lensing nickte. »Ein ICE 2000. Er fuhr zum ersten Mal durch den Tunnel. Eine Testfahrt, sozusagen, sowohl für den Zug als auch für den Tunnel selbst.«

»Testfahrt? Ich denke, der Gridone-Tunnel ist vor zwei Jahren eröffnet worden?«

»Vor drei, beinahe«, verbesserte ihn Lensing. »Aber es ist das erste Mal, daß ein solcher Zug hindurchfährt. Kennen Sie die neuen ICEs der Bundesbahn?« Rogler verneinte, und Lensing fuhr mit einer sonderbaren Grimasse fort: »Die reinsten Raumschiffe auf Schienen. Angeblich schaffen sie mehr als dreihundert Stundenkilometer. Bei voller Geschwindigkeit ist das Ding in zwei Minuten durch den Berg.«