»Was zum Teufel tut ihr da eigentlich?« Lohmanns Stimme drang unangenehm und fast bedrohlich in seine Gedanken, ein störender Faktor, den er ignorieren wollte, aber nicht vollends konnte. »Kommt sofort da raus!«
»Es ist nicht gefährlich«, antwortete Warstein. »Kommen Sie!«
»Er hat recht«, fügte Angelika hinzu. »Kommen Sie her. Es ist wunderschön!«
»Ihr seid ja verrückt!« sagte Lohmann. »Alle beide. Kommt sofort zurück. Verdammt noch mal, wir haben keine Zeit für diesen Kinderkram!« Trotzdem zögerte er nur noch einen kurzen Moment, ehe auch er in den Bereich des Leuchtens hineintrat. Winzige blaue Blitze umspielten seine Gestalt, und Warstein sah, wie sich sein Haar knisternd aufstellte. Ein überraschter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Was ist denn das?« murmelte er.
»Nichts«, antwortete Warstein lachend. »Nichts, was Sie fürchten müßten.« Er streckte die Hand nach dem wirbelnden Schwarm aus und spürte wieder jenes sanfte Kribbeln, das diesmal seinen ganzen Arm hinauflief - und als plötzlicher, heißer Schmerz in seiner Schulter explodierte. Warstein prallte mit einem Schrei zurück und umklammerte seine Hand.
»Was hast du?« fragte Angelika.
Warstein war viel zu schockiert, um zu antworten. Der Schmerz war nicht einmal das Schlimmste. Er war heftig, aber zu kurz gewesen, um ihn richtig zu fühlen. Es hätte diesen Schmerz nicht geben dürfen; nicht in dem Universum aus Frieden, zu dem dieses Licht gehörte.
Behutsam streckte er die Hand abermals nach dem tanzenden Sternenschwarm aus. Diesmal kam der Schmerz sofort. Er traf ihn nicht so heftig wie beim ersten Mal, vielleicht weil er darauf vorbereitet war. Trotzdem erschrak er bis ins Innerste.
»Ja, vielleicht haben Sie recht«, sagte er, an Lohmann gewandt, aber ohne den Blick vom Herzen des pulsierenden Lichtes zu lösen. »Wir sollten weiterfahren.« Er berührte Angelika an der Schulter, um sie mit sich zu ziehen. Das Licht veränderte sich. Es wurde weder intensiver, noch änderte sich etwas an seiner Farbe oder dem Rhythmus seines Pulsierens, aber es wirkte plötzlich nicht mehr sanft und beschützend, sondern kalt, hart und auf eine beunruhigende Weise anders.
»Kommt weg von hier!« sagte Lohmann. »Schnell!« Er klang nervös. Es gelang Warstein nicht mehr, sich nicht von seiner Nervosität anstecken zu lassen. Er wich einen Schritt zurück und wollte Angelika mit sich ziehen, aber sie widersetzte sich ihm.
»Nein«, sagte sie. »Ich möchte noch bleiben.«
Das Licht flackerte. Seine Farbe wechselte von sanftem Grün zu einem kalten, stechenden Blau. Aus dem pulsierenden Herz in seinem Zentrum wurde ein klaffender Riß, aus dem statt winziger leuchtender Sterne nun formlose Schatten quollen, gestaltlose Schemen von beunruhigender Farbe und furchteinflößender Bewegung. Alles war anders. Aus Licht wurde Schatten, aus Frieden Furcht. Plötzlich erfüllte ihn das Leuchten nicht mehr mit Freude, sondern mit Angst. Mit einem erschrockenen Keuchen ließ er Angelikas Arm los und taumelte zurück.
Einer der winzigen Sterne folgte ihm. Sein Licht war plötzlich heiß, und als er seinen Arm berührte, schlugen Funken aus dem Stoff seiner Jacke. Einen Moment später stieg beißender Rauch auf, und dann spürte er einen brennenden Schmerz, so intensiv, als hätte er rotglühendes Eisen berührt.
Auch Angelika schrie auf und wandte sich zur Flucht. Rings um sie herum brodelte Schwärze, wo vor einer Sekunde noch Licht gewesen war. Das Tor zum Paradies hinter ihr war zu einer klaffenden Wunde geworden, aus der gestaltlose, schreckliche Dinge krochen, Monstrositäten, die Warstein nicht erkennen konnte, ja, nicht einmal erkennen wollte, wollte er nicht Gefahr laufen, den Verstand zu verlieren.
Immer mehr und mehr der glühenden Lichter senkten sich auf ihn herab. Warstein taumelte blind vor Angst und Schmerz auf den Wagen zu. Auch er war von wirbelnden Feuerbällen umgeben, die sich in den Lack brannten, die Scheiben schwärzten und übelriechenden Rauch aus den Reifen aufsteigen ließen.
Er zerrte verzweifelt an der Tür, riß sie auf und stürzte in den Wagen. Ein paar Funken wirbelten mit ihm herein, brannten fingernagelgroße Löcher in den Kunststoff des Armaturenbrettes und setzten an drei oder vier Stellen zugleich die Polster in Brand. Warstein schlug die Flammen mit bloßen Händen aus, startete den Motor und fuhr los.
Er konnte kaum etwas sehen. Das Licht war so grell geworden, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Dazu kam, daß der Wagen sich auf dem schlammigen Untergrund kaum noch lenken ließ. Das Steuer bockte und ruckte so wild unter seinen Händen, daß Warstein seine ganze Kraft aufbieten mußte, um es überhaupt festzuhalten.
Ein Schatten tauchte inmitten des Chaos vor der Windschutzscheibe auf. Warstein trat hart auf die Bremse und brachte den Wagen mit einem Ruck zum Stehen, der ihn fast auf das Lenkrad hinaufschleuderte. Die Beifahrertür wurde aufgerissen, und Angelika kletterte herein.
Warstein erschrak, als er sie sah. Ihr Haar und ihre Kleider schwelten, und auf ihrer Wange prangte eine gewaltige Brandblase. Ihr Gesicht war eine Maske blanken Entsetzens. Ihr rechter Arm schien ernsthaft verletzt zu sein, denn sie benutzte ihn nicht, als sie hereinstieg, sondern preßte ihn eng an den Körper. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, als Warstein herübergreifen und ihr helfen wollte.
»Lohmann«, sagte sie hastig. »Er ist dort draußen irgendwo. Rechts.«
Warstein gab viel zu hastig Gas. Die Reifen wühlten in dem weichen Schlamm, und der Wagen begann wild hin und her zu schlingern, ohne nennenswert von der Stelle zu kommen. Dann bewegte er sich prompt in die falsche Richtung: direkt auf das Zentrum des Leuchtens zu. Warstein kurbelte verzweifelt am Lenkrad, trat abwechselnd auf Kupplung, Bremspedal und Gas - und registrierte die Bewegung auf der anderen Seite der Windschutzscheibe einen Sekundenbruchteil zu spät.
Etwas prallte mit einem dumpfen Knall gegen den Wagen, und Warstein glaubte einen krächzenden Schrei zu hören. Ein Schatten wirbelte davon und stürzte zu Boden. Er war sicher, Lohmann überfahren zu haben.
Aber er täuschte sich. Noch während er entsetzt nach draußen starrte und die Stelle auszumachen versuchte, an der der Schatten zu Boden gestürzt war, wurde die Tür neben Angelika aufgerissen, und Lohmann zog sich in den Wagen herein.
»Fahr los!« kreischte er. »Fahr! Schnell!« Seine Stimme schnappte fast über, und er bot einen fast noch schlimmeren Anblick als Angelika zuvor. Er war völlig verdreckt und blutete aus einem halben Dutzend Wunden.
Warstein sah ihn kaum. Lohmann hatte die Tür offengelassen, und hinter ihm ... war etwas. Warstein konnte nicht sagen, was es war, weder jetzt noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, wenn er sich an diese Sekunden zu erinnern versuchte. Es war ein Etwas, eine grauenhafte, blasphemische Kreatur, die aus der Dimension des Wahnsinns in eine zerbröckelnde Wirklichkeit herübergekrochen war und sich dem Wagen näherte, ein schwarzes, abstoßendes Ding ohne wirklichen Körper oder feste Umrisse, das sie aber töten würde, einfach dadurch, daß es da war.
Warstein trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, und diesmal griffen die Reifen.
15
In Roglers Augen war es schon mehr als ein kleines Wunder, daß die Panik keine Menschenleben gefordert hatte. Es hatte nicht einmal lange gedauert. Auch wenn es ihm - während es geschah - so vorkam, als hätte sich die Uferpromenade für Stunden in einen Hexenkessel aus Schreien, Lärm, durcheinanderstürzenden Menschen und kämpfenden Körpern verwandelt, so vergingen doch in Wahrheit nur Minuten, bis die Menschen begriffen, daß die Lichter am Himmel keine Gefahr bedeuteten. Aber diese wenigen Minuten waren die Hölle.