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Die letzten Augenblicke bekam er gar nicht mehr richtig mit. Er war von der Menge gegen die Mauer gedrängt und schließlich zu Boden geworfen worden, und als er wieder halbwegs frei atmen und klar denken konnte, war das Schlimmste vorüber. Die Straße war noch immer voller Menschen, und Rogler registrierte voller Schrecken, daß viele davon am Boden lagen und sich vor Schmerz krümmten, aber der Großteil der Menge hatte sich zerstreut. Die Zurückgebliebenen kümmerten sich um die Verletzten oder standen einfach da und starrten in den Himmel hinauf.

Über das Firmament jagten Farben und leuchtend bunte, konturlose Schemen, Wolken aus purem Licht und flimmernde Gebilde aus reiner, leuchtender Energie, die in rasendem Wechsel ebenso schnell vergingen, wie sie entstanden, und wieder neu erschienen. Der Anblick war auf unmöglich in Worte zu fassende Weise faszinierend und erschreckend zugleich. Er erfüllte Rogler gleichermaßen mit einem Gefühl tiefen, allumfassenden Friedens wie auch bodenlosen Entsetzens, als wäre in dem, was sich dort über ihnen abspielte, die ganze Bandbreite möglicher Empfindungen vorhanden, bereit, jedem das zu geben, was er darin sehen wollte.

Nur mit Mühe gelang es ihm, sich von dem Anblick zu lösen und seine Aufmerksamkeit wieder dem zuzuwenden, was rings um ihn herum vorging. Das Bild auf der Straße hatte sich nicht verändert - ebensowenig wie das auf der anderen Seite der Mauer. Die Männer dort standen und saßen noch immer reglos beieinander oder taten, wozu auch immer sie gekommen waren. Für sie schienen die Phänomene dort oben am Himmel gar nicht zu existieren. Er hielt nach Franke Ausschau und entdeckte ihn bei seinem Wagen. Franke stand halb ins Innere des Fahrzeugs gebeugt da und telefonierte, wobei er heftig mit der freien Hand herumfuchtelte. Rogler konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil er mit dem Rücken zu ihm stand, aber er wirkte sehr angespannt. Nach einem letzten Moment des Zögerns ging Rogler auf ihn zu. Zu seiner Überraschung begrüßte ihn Franke mit einem flüchtigen Lächeln, telefonierte jedoch noch gute zwei oder drei Minuten weiter, ehe er endlich einhängte. »Was halten Sie davon?« fragte er.

Rogler sah kurz zum Himmel hoch. »Die Frage müßte wohl eher lauten: was halten Sie davon«, sagte er. Er versuchte zu lachen, aber es klang nervös; das Eingeständnis einer Schwäche, der er sich selbst noch nicht ganz bewußt war.

»Davon?« Franke hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Für einen Wissenschaftler sagen Sie das in letzter Zeit ziemlich oft«, sagte Rogler. Es klang ein bißchen wie ein Vorwurf, und in gewissem Sinne war es das auch. Er fühlte sich von Franke verraten. Nach dem, was er heute erfahren hatte, mochte er ihn weniger denn je, aber das änderte nichts daran, daß er Wissenschaftler war; ein Angehöriger jener Zunft, die alles wußte und alles konnte.

Franke lachte erneut. »Und Sie werden es noch viel öfter zu hören bekommen, fürchte ich«, sagte er. »Wissen Sie eigentlich, wodurch wir Wissenschaftler uns wirklich von den meisten anderen Menschen unterscheiden? Ganz einfach dadurch, daß wir über sehr viel mehr Dinge nichts wissen als die anderen.« Er blickte aus zusammengekniffenen Augen zu den Gestalten auf der anderen Seite der Straße. »Ich möchte nur wissen, was zum Teufel sie dort tun.«

Rogler starrte ihn verwirrt an. Es war noch keine Stunde her, daß Franke ihm erklärt hatte, das Ende der Welt stünde bevor, und jetzt zerbrach er sich den Kopf über ein paar Verrückte?

Jemand berührte ihn an der Schulter. Es war der junge Polizist, der ihn bereits vorhin angesprochen hatte. Er sah noch verstörter aus, und er war verletzt, wenn auch nicht schwer.

»Ja?« fragte Rogler.

»Wir brauchen Ihre Hilfe, Herr Hauptmann«, antwortete der Beamte. »Es hat eine Menge Verletzte gegeben.«

»Dann rufen Sie einen Krankenwagen«, antwortete Rogler, in schärferem Ton, als er eigentlich beabsichtigt hatte. »Oder besser gleich ein paar.«

»Das habe ich versucht. Aber die Funkgeräte funktionieren nicht mehr.« Rogler schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter. Er konnte an der Situation rein gar nichts ändern, aber der junge Polizeibeamte brauchte wohl auch im Grunde niemanden, der ihm half, sondern nur jemanden, der zuhörte.

»Sie können mein Autotelefon benutzen«, sagte Franke, ehe Rogler antworten konnte. Er machte eine einladende Geste. »Es funktioniert noch. Nicht besonders gut, aber es geht.«

Während der Beamte tat, was Franke vorgeschlagen hatte, entfernten sie sich ein paar Schritte vom Wagen. Franke senkte unwillkürlich die Stimme, als er weitersprach, obwohl es weit und breit niemanden gab, der sie hätte belauschen können; geschweige denn jemanden, der mit dem Gehörten etwas anfangen konnte. »Wir müssen zurück nach Porera«, sagte er. »Dort oben ist der Teufel los. Sämtliche Computer und fast alle Kommunikationseinheiten sind ausgefallen.« Irgendwie hatte Rogler das Gefühl, daß das nur der kleinste Teil der schlechten Neuigkeiten war, die Franke auf Lager hatte. Aber er kannte ihn mittlerweile auch gut genug, um sich eine entsprechende Frage zu sparen. Statt dessen schüttelte er den Kopf.

»Ich kann unmöglich hier weg«, sagte er. »Außerdem wäre ich Ihnen bestimmt keine Hilfe. Ich würde Sie nur behindern.«

»Aber ich fürchte, ich muß darauf bestehen«, sagte Franke.

»Sie sehen doch, was hier los ist!« fuhr Rogler auf. »Und wahrscheinlich sieht es in der ganzen Stadt nicht anders aus! Es muß Hunderte von Verletzten gege...«

Franke schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Ich dachte, Sie hätten es begriffen, Rogler.«

»Was begriffen?«

»Daß Sie nirgendwo mehr hingehen werden, wenn ich nicht dabei bin«, antwortete Franke. »Glauben Sie wirklich, ich lasse Sie frei herumlaufen, mit dem, was Sie jetzt wissen? So naiv können Sie nicht sein.«

Rogler war wie vor den Kopf geschlagen. »Moment mal«, sagte er. »Soll das heißen, daß ich Ihr Gefangener bin?«

»Seien Sie nicht albern«, seufzte Franke. »Auch wenn Sie in gewissem Sinne recht haben. Aber Sie sind seit heute Geheimnisträger, ob Ihnen das nun paßt oder nicht. Und als solcher sind Sie leider nicht mehr ganz Ihr eigener Herr.«

»Davon war nie die Rede!« protestierte Rogler.

»Jetzt wissen Sie es«, unterbrach ihn Franke. »Außerdem - wenn es Ihnen ein Trost ist: ich brauche Sie.«

»Mich?«

»Ich brauche verdammt noch mal jedes bißchen Hilfe, das ich bekommen kann«, bestätigte Franke. »Wir müssen Warstein finden, und das werden Sie übernehmen.«

»Was ist an diesem Mann eigentlich so wichtig?« fragte Rogler.

Er bekam nicht sofort eine Antwort. Franke blickte einen Moment lang an ihm vorbei ins Leere, und noch bevor er weitersprach, begriff Rogler plötzlich, daß der Wissenschaftler sich im Grunde so hilflos und verstört fühlte wie er selbst. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Verdammt, ich bin mit meinem Latein am Ende. Wahrscheinlich ist es nur ein Strohhalm, nach dem ich greife. Aber ich habe keinen anderen.«

»Dieser Warstein weiß etwas«, sagte Rogler. Er machte eine weit ausholende Geste, die den See, die Stadt und den Himmel einschloß. »Darüber.«

Franke lächelte ganz kurz. »Sehen Sie? Genau das habe ich gemeint, als ich sagte, daß ich Sie brauche. Seien Sie vernünftig.«

Rogler war nicht einmal sicher, ob er überhaupt vernünftig sein wollte. Er war zornig, doch dieser Zorn galt nicht nur Franke, sondern zum größeren Teil ihm selbst. Natürlich hatte Franke recht - er hätte sich denken können, daß er nach dem Besuch in Porera nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte, als hätte er einen Flughafen oder eine Druckerei besichtigt.

»Geben Sie mir zehn Minuten«, bat er. »Nur um die wichtigsten Dinge zu regeln.«

»Es dauert ohnehin eine Weile, bis der Hubschrauber hier ist«, antwortete Franke. »Wie es aussieht, haben sie nicht nur mit den Funkgeräten Schwierigkeiten. Kann ich Ihnen vertrauen?«