»Das können Sie«, versprach Rogler.
»Wir müßten eigentlich tot sein«, sagte Lohmann. Seine Stimme zitterte und strafte das nervöse Lächeln, mit dem er seine Worte begleitete, Lügen. Direkt auf seiner Stirn prangte wie ein häßliches, rotes Zyklopenauge eine rote Brandwunde, und seine Haut war nicht mehr blaß, sondern grau. In seinen Augen stand ein irres Flackern, das verriet, welche Mühe es ihn kostete, zumindest äußerlich noch die Beherrschung zu bewahren.
Warstein antwortete nicht, sondern konzentrierte sich weiter auf die Straße, deren Verlauf er mittlerweile mehr erriet als erkannte, aber Angelika sagte: »Für meinen Geschmack war es schlimm genug.«
»Für meinen auch«, bestätigte Lohmann. »Trotzdem - seht euch den Wagen an. Das Zeug hat Löcher ins Blech gebrannt!«
»Ich verstehe das nicht«, murmelte Angelika. Sie hob die Hand an die Wange, betastete eine Sekunde lang die Brandblase darauf und sah dann stirnrunzelnd auf ihre Fingerspitzen herab. »Es war so ... so friedlich. Und dann das.«
Warstein schwieg noch immer, wenn auch jetzt aus anderen Gründen. Offensichtlich hatte Angelika nichts von der Kreatur bemerkt, die Lohmann verfolgt hatte, und er hielt es auch für besser, ihr weiter nichts davon zu erzählen. Auf eine Art und Weise, die er noch nicht vollständig begriffen hatte, schien das, was dort draußen geschah, mit dem zusammenzuhängen, was sie empfanden. Das Licht hatte den Frieden gebracht, solange sich Angelika allein darin aufgehalten hatte. Er war nur noch nicht sicher, ob nun er oder Lohmann es gewesen war, der das Tor in die andere Richtung aufgestoßen hatte. Vielleicht wollte er es auch gar nicht wirklich wissen. »Tut es weh?« fragte er.
Angelika hob erneut die Hand an die Wange, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Nicht sehr. Ich hoffe, es bleibt keine Narbe zurück.«
Wahrscheinlich nicht, dachte Warstein. Die Brandblase war weitaus weniger schlimm, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Er nahm flüchtig den Blick von der Straße, um Angelika zuzulächeln, und als sie die Hand herunternahm, erkannte er nur noch eine münzgroße, gerötete Stelle auf ihrer Wange. Wahrscheinlich würde sie morgen früh bereits verschwunden sein. »Das ist nur ein Kratzer«, sagte er.
»Eure Sorgen möchte ich haben«, nörgelte Lohmann. »Wie lange zum Teufel müssen wir noch fahren?«
»Ich weiß nicht, wie weit es noch bis zum Teufel ist«, antwortete Warstein. »Aber bis zum Berg kann es nicht mehr weit sein.« Er hatte keine Ahnung, ob das wirklich stimmte. Warstein hatte gründlich die Orientierung verloren. Er wollte einzig verhindern, daß sie weiter über das sprachen, was sie erlebt hatten. Noch vor ein paar Stunden hätte er vielleicht über diese Behauptung gelacht, aber jetzt wußte er, daß es Dinge gab, die wahr werden konnten, ganz einfach, indem man über sie redete. »Vielleicht zehn Minuten.«
Lohmann sah ihn stirnrunzelnd an. Sie hatten kurz angehalten, um sich um seine und Angelikas Verletzungen zu kümmern, aber seit sie weitergefahren waren, war noch nicht sehr viel Zeit vergangen. Nicht einmal annähernd so viel, wie Warstein vorausgesagt hatte, als sie den Paß überschritten. Aber vielleicht erriet er Warsteins wahre Beweggründe, denn er widersprach nicht.
»Und dann?« fragte er. »Ich meine, wie sieht es unten am Berg aus?«
»Keine Ahnung«, gestand Warstein. »Als ich das letzte Mal hier war, war dort nichts. Der Tunnel eben, und die Eisenbahntrasse. Aber damals gab es auch noch keinen Zaun.«
»Wenn sie schon die Straße sperren, die zum Berg führt, dann werden sie den Tunnel bestimmt noch besser bewachen«, sagte Angelika. »Vielleicht warten sie sogar schon auf uns.«
Ganz bestimmt sogar, dachte Warstein. Spätestens der Anblick des Zaunes hatte ihm klargemacht, daß er Franke trotz allem noch immer unterschätzt hatte. Auch wenn er vielleicht nicht wirklich damit rechnete, daß sie sich dem Berg von dieser Seite aus nähern würden - er hatte sich einfach auf alles vorbereitet. Warstein war absolut sicher, daß sie keine Chance hatten, den Tunnel unbemerkt zu betreten. Aber das wollte er ja auch gar nicht.
»Warten wir einfach ab, was passiert«, schlug Lohmann vor, »und improvisieren im Notfall. Ich bin gut im Improvisieren. Habe ich das schon gesagt?«
»Mehrmals«, antwortete Warstein. Er schaltete herunter und gab behutsam Gas, um den Wagen um einen Geröllhaufen herumzulenken, der offensichtlich vom Regen losgewaschen worden war und die Hälfte der Fahrbahn blockierte. Trotzdem schlug etwas mit einem dumpfen Knall gegen die Karosserie. Der Ford ächzte, und für eine halbe Sekunde drohte Warstein die Gewalt über das Steuer zu verlieren. Fluchend kämpfte er mit der bockenden Lenkung und brachte den Wagen wieder unter seine Kontrolle.
Lohmann warf Warstein einen schrägen Blick zu, der verriet, was er von seinen Fahrkünsten hielt, aber er war diplomatisch genug, es wenigstens nicht laut auszusprechen. Mit zitternden Fingern zündete er sich eine Zigarette an und griff nach dem Radio, um an den Kontrollen herumzuspielen; wahrscheinlich nur, um seine Hände irgendwie zu beschäftigen. »Wenn wenigstens dieses Ding wieder funktionieren würde... He! Es geht ja!«
Tatsächlich drangen aus dem Lautsprecher, der bis jetzt geschwiegen hatte, plötzlich kratzende und pfeifende Störgeräusche. Lohmann drehte hektisch an den Knöpfen und fand schließlich einen Sender, den sie halbwegs klar empfangen konnten.
Allerdings nicht verstehen. Aus dem Lautsprecher drang eine helle Frauenstimme, die in einer Warstein vollkommen unbekannten Sprache redete. »Was ist denn das?« fragte Angelika verblüfft.
Warstein konnte nur mit den Schultern zucken, aber Lohmann riß so verblüfft den Mund auf, daß ihm die Zigarette aus den Lippen fiel. »Das gibt es doch nicht!«
»Was gibt es nicht?« erkundigte sich Angelika.
»Das ist ... koreanisch!« antwortete Lohmann. »Ich bin ganz sicher.«
»Sprechen Sie diese Sprache?« fragte Angelika.
»Nein. Aber ich war zweimal in Seoul. Ich habe genug davon aufgeschnappt, um sie zu erkennen.« Er bückte sich nach seiner Zigarette. »Kann mir einer erklären, wieso wir hier in der Schweiz plötzlich einen koreanischen Sender empfangen können?«
»Vielleicht ist es ein besonders gutes Radio«, antwortete Warstein nervös. Niemand lachte über den lahmen Scherz, und nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Möglicherweise hat es etwas mit diesem Phänomen am Himmel zu tun.«
»Korea liegt auf der anderen Seite der Welt«, erinnerte Lohmann.
Warstein hob die Schultern. »Radiowellen verhalten sich manchmal sehr seltsam«, antwortete er. »Besonders bei ungewöhnlichen atmosphärischen Bedingungen.«
Das klang auch nicht wesentlich überzeugender als das, was er zuvor gesagt hatte, aber Lohmann ließ es dabei bewenden. Er griff wieder mit spitzen Fingern nach dem Knopf und ließ den grünen Leuchtpunkt über die Skala wandern. Die Stimme vom anderen Ende der Welt ging wieder im Krachen und Knistern atmosphärischer Störungen unter. »Mal sehen«, witzelte er. »Vielleicht kriege ich ja noch Radio Eriwan rein.«
Im Scheinwerferlicht vor ihnen tauchte ein weiteres Hindernis auf. Warstein nahm den Fuß vom Gas und schaltete in den ersten Gang zurück, aber dann erkannte er, daß es nur ein losgerissener Busch war. Die dürren Äste zerbrachen wie Glas unter den Rädern, als der Wagen darüber hinwegfuhr. Dahinter wurde die Straße spürbar besser. Unter den Reifen war plötzlich nicht mehr tückischer Morast, sondern grober Schotter, auf dem die Räder sicheren Halt fanden. Auch die Sicht war nicht mehr so schlecht wie bisher. Warstein atmete hörbar auf und fuhr ein wenig schneller.
Mittlerweile hatte Lohmann einen Sender gefunden, der offenbar nicht auf der anderen Seite der Erdkugel stand, denn obwohl der Empfang so schlecht war, daß sie nur Wortfetzen verstanden, redete der Sprecher eindeutig deutsch. »Versuchen Sie es besser einzustellen«, sagte Angelika.