»Wir haben Glück«, sagte Franke und hängte das Telefon ein. »Sie haben einen der Hubschrauber wieder flottbekommen. Er ist in fünf Minuten hier.« Er öffnete das Barfach, goß sich einen Cognac ein und sah Rogler abermals fragend an.
Wieder verneinte er. »Ich denke, es ist besser, wenn ich nüchtern bleibe.«
»Wer hat gesagt, daß Sie sich betrinken sollen?« fragte Franke lächelnd. »Obwohl es vielleicht nicht einmal die schlechteste Idee wäre. Wer weiß, wie lange wir noch Gelegenheit dazu haben.« Er prostete Rogler zu, leerte sein Glas in einem Zug und stellte es zurück.
»Ich verstehe Sie nicht, Franke«, sagte Rogler. »Vor ein paar Stunden haben Sie mir noch erklärt, daß das Ende der Welt bevorsteht, und jetzt sitzen Sie da, als wäre nichts geschehen.«
Er wußte, daß er ungerecht war. Sein Zorn hatte überhaupt keinen Grund. Aber es war nicht das erste Mal, daß er die Erfahrung machte, wie erleichternd es sein konnte, ungerecht zu sein.
Franke blieb vollkommen ruhig. »Und was soll ich tun, Ihrer Meinung nach?« fragte er. »Mir ein Stück Blech und einen Schweißbrenner besorgen und einen Deckel bauen, den wir über das Loch stülpen?«
»Zum Beispiel«, bestätigte Rogler. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, daß er dabei war, sich vollends zum Narren zu machen, aber das war ihm egal. »Ich meine, Sie müssen doch ... irgend etwas tun.«
»Und was?« fragte Franke.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Bin ich hier der Wissenschaftler?«
»Was Sie brauchen, ist ein Zauberer, keinen Wissenschaftler, Rogler. Wir werden uns etwas einfallen lassen, aber wenn Sie Wunder erwarten, müssen Sie sich an die Herren dort drüben wenden. Vielleicht können sie ja noch mehr.« Er deutete auf die andere Seite der Straße. Das Bild sah noch immer so unheimlich aus wie vorhin, jetzt vielleicht noch bizarrer. Die knapp hundert vollkommen unterschiedlich gekleideten und aussehenden Gestalten schienen sich in der ganzen Zeit nicht geregt zu haben. Angesichts der überfüllten Straße auf der anderen Seite der Mauer wirkte der Anblick geradezu absurd. Vielleicht dauerte es deshalb auch einige Sekunden, bis die Bedeutung von Frankes Worten wirklich in Roglers Bewußtsein drang.
»Einen Augenblick«, sagte er. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß die da irgend etwas damit zu tun haben, was hier passiert?«
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glaube«, gestand Franke. Er klang müde. Und ein bißchen resigniert. »Im Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich sie um Hilfe bitten oder erschießen lassen soll.«
Rogler ignorierte den letzten Teil des Satzes. »Um Hilfe bitten?«
»Wundert Sie das?« Franke lachte, streckte die Hand nach dem Barfach aus und zog sie wieder zurück, ohne es berührt zu haben. »Ich würde auch auf einem Bein um einen Kreuzweg herumhüpfen und um Mitternacht Krötenbeine schlucken, wenn ich wüßte, daß es hilft.«
Das Telefon summte. Franke hob ab und lauschte einige Sekunden, ohne sich gemeldet zu haben. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Greifen Sie nicht ein. Nur beobachten. Ich komme selbst hin.«
Er hängte ein. Auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck vorsichtiger Erleichterung breit. »Warstein«, sagte er.
»Sie haben ihn?«
»Ja«, antwortete Franke. »Besser gesagt: nein. Aber wir wissen, wo er ist. Wir brauchen ihn nicht mehr zu suchen. Er kommt freiwillig her.« Er beugte sich zur Seite, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen und öffnete dann die Tür. »Kommen Sie, Rogler. Der Helikopter ist im Anflug.«
Ein Gefühl ungläubigen Schreckens machte sich in Rogler breit, als er hinter Franke aus dem Wagen stieg. »Sie lassen die Maschine doch nicht etwa hier landen?« keuchte er.
»Haben Sie eine bessere Idee?« Das Geräusch des näher kommenden Hubschraubers machte Roglers Verdacht zur Gewißheit. »Wir kommen mit dem Wagen nicht aus der Stadt heraus, und zu Fuß wahrscheinlich auch nicht. Außerdem zählt im Moment jede Minute.«
Die letzten Worte hatte er bereits schreien müssen, um das Dröhnen der näher kommenden Maschine zu übertönen. Rogler zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, während er in den Himmel hinaufsah. Obwohl er gewußt hatte, was er sehen würde, erschrak er bis ins Mark.
Vor dem vielfarbigen Hintergrund des brennenden Firmaments wirkte der Helikopter wie ein Ungeheuer aus einer fremden Welt. Die Maschine war riesig; nicht der kleine Hubschrauber, mit dem sie am Morgen geflogen waren, sondern ein gewaltiges Gebilde aus Stahl und Kunststoff, das viel zu groß erschien, um auf der schmalen Uferpromenade aufzusetzen.
»Sie sind ja völlig wahnsinnig!« brüllte Rogler.
Franke verstand die Worte nicht. Jeder Laut ging im Heulen der Rotoren unter - und dem Chor gellender Schreckensschreie, mit dem die Menschenmenge plötzlich panisch auseinanderspritzte, um dem landenden Helikopter Platz zu machen.
Rogler und Franke wichen geduckt hinter den Wagen zurück, während die Maschine tiefer glitt. Der künstliche Tornado peitschte die Baumwipfel und das Gras auf der anderen Seite der Mauer und überschüttete sie mit Staub. Rogler fluchte innerlich auf Franke, daß er ausgestiegen war, statt in der Sicherheit des Wagens abzuwarten, bis die Maschine aufgesetzt hatte.
Der Helikopter hatte tatsächlich Mühe, auf der Straße zu landen. Der Pilot brauchte zwei Anläufe, ehe es ihm gelang, die Maschine aufzusetzen, und zumindest von Roglers Position her sah es aus, als verfehlten die Rotorblätter die Häuser auf der anderen Straßenseite nur um Zentimeter. Instinktiv zog er den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern und drehte das Gesicht aus dem Wind. Dabei fiel sein Blick auf den Grasstreifen auf der anderen Seite der Mauer, und er sah etwas sehr Erstaunliches.
Der Sturm, den die Rotorblätter auslösten, erreichte die versammelten Magier und Schamanen nicht. Zwar wirbelten auf dieser Seite der Mauer Staub, abgerissene Blätter und Papierfetzen in einem irrsinnigen Tanz durcheinander, und die Wipfel der Bäume bogen sich unter der Wucht des Orkanes, aber der unmittelbare Bereich, in dem sich die Männer aufhielten, blieb windstill. Nicht einmal die Feuer, die zwischen ihnen brannten, flackerten stärker.
»Kommen Sie!« brüllte Franke. Er berührte Rogler an der Schulter, aber er mußte ihn fast gewaltsam mit sich zerren, bis er sich von dem unheimlichen Anblick losriß. Obwohl es nicht annähernd so dramatisch war wie das, was sich über ihren Köpfen abspielte, erschreckte ihn dieses Bild hundertmal mehr als die Lichter am Himmel.
Die Türen des Helikopters wurden aufgestoßen, während sie darauf zuhasteten. Ein gutes Dutzend bewaffneter Soldaten sprang heraus und begann in weitem Umkreis um die Maschine Aufstellung zu nehmen.
»Was bedeutet das?« schrie Rogler über den Motorenlärm hinweg.
Franke zerrte ihn einfach weiter, kletterte mit erstaunlichem Geschick in den Hubschrauber und wartete ungeduldig, bis Rogler ihm gefolgt war. Die Türen wurden geschlossen, und die Maschine hob schon wieder ab, noch ehe sie die Sitzbänke ganz erreicht hatten.
»Was geht hier vor?« Rogler wiederholte seine Frage, wenn auch keuchend und in nicht halb so forderndem Ton, wie er es gerne gehabt hätte. Der kurze Lauf hatte ihn vollkommen erschöpft. »Was sollen diese Soldaten und der Wahnsinn mit dem Helikopter? Es hätte Tote geben können, ist Ihnen das eigentlich klar?«
»Ich weiß«, antwortete Franke. Er rutschte auf seinem Sitz in eine bequemere Position, zog den Sicherheitsgurt über die Brust und sah Rogler lange und sehr ernst an. »Aber ich fürchte, das spielt keine Rolle mehr«, fuhr er fort, in einem Ton, der Rogler ein eisiges Schaudern über den Rücken laufen ließ. »Wenn kein Wunder geschieht, Herr Rogler, dann wird diese Stadt mit all ihren Einwohnern in vierundzwanzig Stunden aufhören zu existieren.«
Sie erreichten so abrupt das Ende der Straße, daß Warstein nicht schnell genug reagierte. Die einzige Reaktion, zu der er imstande war, war vollkommen falsch. Der Zaun tauchte urplötzlich hinter einer Biegung des Weges auf, und Warstein trat instinktiv so hart auf die Bremse, daß der Wagen ausbrach. Statt gegen das Gittertor zu prallen, das er mit großer Wahrscheinlichkeit einfach durchbrochen hätte, krachte er gegen einen der beiden Betonpfeiler, die die Straße flankierten und kam mit einem gewaltigen Ruck, dem Splittern von Glas und zerbrechendem Metall zum Stehen. Der Motor erstarb mit einem Geräusch, das ihm klarmachte, daß er nie wieder anspringen würde, und der Anprall schleuderte ihn gegen das Lenkrad.