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»Halt!«

Lohmann hob erschrocken die Hand und legte gleichzeitig den anderen Zeigefinger über die Lippen, obwohl er alles andere als leise geredet hatte. »Da kommt jemand!«

Warstein hörte nichts, aber er hastete trotzdem zusammen mit Angelika rasch in die Deckung eines Felsbrockens, der am Straßenrand lag. Lohmann gesellte sich zu ihnen, nachdem er noch einige Sekunden dagestanden und angespannt gelauscht hatte.

»Was ist?« flüsterte Warstein.

Lohmann gestikulierte ihm hastig zu, leise zu sein, ehe er - übrigens deutlich lauter als Warstein zuvor - antwortete: »Ich habe etwas gehört. Stimmen. Jemand kommt hierher.«

»Dann haben sie uns doch entdeckt«, sagte Angelika.

Lohmann zuckte nur mit den Schultern, wiederholte seine warnende Handbewegung und duckte sich tiefer hinter den Stein, der kaum ausreichte, um ihnen allen Deckung zu gewähren.

Sie waren bei der Wahl ihres Versteckes nicht sehr gut beraten gewesen. Der Felsbrocken blockierte fast ein Drittel der Straße, und er mußte vor noch nicht allzu langer Zeit vom Berg heruntergerollt sein, denn er hatte alles niedergewalzt, was sich ihm in den Weg stellte. Es gab hinter ihnen nichts, wo sie sich hätten verstecken können. Wenn Lohmann recht hatte und wirklich jemand die Straße herauf kam, dann mußten sie zwangsläufig entdeckt werden. Warstein spielte eine Sekunde lang mit dem Gedanken, die Straße zu überqueren und im dichten Gebüsch auf der anderen Seite Schutz zu suchen, aber es war zu spät. Jetzt hörte auch er die Stimmen, und nur eine Sekunde später sah er das Licht eines starken Scheinwerfers, das wie ein suchender Finger die Straße entlangtastete.

Vorsichtig richtete er sich auf und spähte über den Rand ihrer Deckung hinweg. Sein Herz machte einen Sprung. Es waren mindestens sieben oder acht Männer; zwei von ihnen waren mit starken Handscheinwerfern ausgerüstet, mit denen sie aufmerksam den Straßenrand zu beiden Seiten ableuchteten. Die Männer trugen dunkelgefleckte Uniformen, und alle waren bewaffnet.

»Verdammt!« flüsterte Lohmann. »Sie kommen direkt auf uns zu!«

Warstein sah sich gehetzt um. Die Männer waren vielleicht noch zwanzig oder dreißig Meter entfernt. Sie bewegten sich nicht sehr schnell, aber sobald sie den Felsen erreicht hatten, mußten sie sie einfach sehen. »Ich werde sie ablenken«, sagte er entschlossen. »Vielleicht suchen sie nicht weiter nach euch, wenn ich mich ihnen stelle.«

Er wollte aufstehen, aber Lohmann ergriff seinen Arm und riß ihn mit einem fast brutalen Ruck wieder zurück. »Sie bleiben hier!« sagte er. »Sie kriegen uns alle oder keinen.«

Warstein riß seine Hand los. Er setzte dazu an, Lohmann zu sagen, was er von seiner kindischen Pfadfinderehre hielt, aber in diesem Moment begann Angelika neben ihm so heftig zu zittern, daß er erschrocken herumfuhr und sie anstarrte. Es dauerte fast eine Sekunde, bis er begriff, daß die Mischung aus Entsetzen und Unglauben, die er in ihren Augen las, nicht ihm oder den Männern auf der anderen Seite des Felsens galt.

Hinter ihnen war etwas. Er konnte es nicht genau erkennen - es war groß und dunkel, und es bewegte sich auf eine sonderbar falsche, unnatürliche Weise. Warstein glaubte, glitzernde Schuppen zu erkennen, gebogene Klauen und messerscharfe Zähne und kleine, tückische Augen, die ihn aus der wogenden schwarzen Masse des kriechenden Körpers anstarrten. Das Geschöpf war kaum noch eine Armeslänge von ihnen entfernt. Eine Welle lähmenden Entsetzens machte sich in ihm breit. Seine Kopfhaut begann zu prickeln, und eine unsichtbare, eiserne Hand legte sich um seine Kehle und drückte sie zu, so daß er nicht einmal einen Schreckensschrei ausstoßen konnte. Es war das Ding von vorhin. Die Bestie von der anderen Seite des Tores, die ihnen gefolgt war.

Lohmann schien noch gar nicht bemerkt zu haben, was sich hinter ihnen abspielte. »Mir wird schon etwas einfallen«, sagte er. »Ich bin gut im Improvisieren. Wir müssen sie irgendwie ablenken.«

»Lohmann«, sagte Warstein.

»Ich brauche nur ein paar Sekunden«, fuhr Lohmann fort. »Irgend etwas, damit wir es in den Wald schaffen.«

»Lohmann!« sagte Warstein noch einmal. Er war noch immer wie gelähmt. Das Ungeheuer kam nicht näher, aber er war auch nicht in der Lage, sich zu rühren. Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung gelang es ihm schließlich, den Kopf zu drehen und zu Lohmann zurück zu blicken. Der Journalist hatte sich in eine halb hockende Stellung erhoben und spähte um den Rand ihrer Deckung herum. Einer der Scheinwerferstrahlen war jetzt ganz nah.

»Lohmann!« sagte Warstein noch einmal.

Lohmann drehte mit einem zornigen Ruck den Kopf - und stieß ein überraschtes Keuchen aus. »Was -?«

»O mein Gott, ist das schön!« flüsterte Angelika.

Warstein starrte sie ungläubig an, drehte dann wieder den Kopf und verharrte plötzlich.

Das Geschöpf war fort. Das hieß, es war noch da, aber es hatte sich verändert, so sehr und so drastisch, wie es überhaupt nur möglich schien. Aus dem krallen-bewehrten, kriechenden Chaos, das den Tod zu ihnen brachte, war eine Kreatur geworden, die so schön und friedvoll war, daß ihr Anblick Warstein schier den Atem verschlug. Er konnte auch jetzt nicht genau erkennen, was da überhaupt vor ihnen lag. Es war ein Wesen wie aus einer Vision des Garten Eden, ein zartes Gespinst aus Federn und Fell und schimmernder Seide, aus dünnen, zerbrechlichen Gliedern und filigranen Fühlern, das nichts glich, was er jemals zuvor gesehen hatte. Trotz seiner Größe wirkte es verletzlich und sehr verwundbar, und sein bloßer Anblick erweckte in Warstein ein Gefühl der Zärtlichkeit und des Beschützenwollens, wie er es niemals zuvor in dieser Intensität verspürt hatte. Aber das war doch unmöglich, dachte er. Er konnte sich nicht so getäuscht haben. Vor einer Sekunde noch hatte er sich einer Kreatur der Hölle gegenübergesehen. Jetzt erblickte er etwas, das ein Geschöpf des Himmels zu sein schien, ein Wesen, gegen dessen Schönheit und Sanftmut selbst ein Engel verblassen mußte.

»Was ... was ist das?« flüsterte Angelika. Ihre Augen leuchteten. Langsam streckte sie die Hände aus und berührte das goldfarbene Fell des reglos daliegenden Wesens. Ein leises Knistern war zu hören, als ihre Fingerspitzen das Geschöpf streichelten. Die Kreatur reagierte auf die Berührung. Warstein hörte einen hellen, sphärischen Laut, und der ganze Körper zitterte sacht. Es war ein Anblick wie von Wind, der durch ein Kornfeld strich.

»He!« sagte Lohmann hinter ihnen. »Sie sind weg!«

Warstein riß sich widerwillig vom Anblick der goldenen Kreatur los. Lohmann hatte sich ganz aufgerichtet und sah in die Richtung, aus der die Soldaten gekommen waren. Die Scheinwerferstrahlen waren fort, und die Männer, zu denen sie gehörten, auch.

»Wo ... sind die Soldaten?« fragte Lohmann.

Warstein konnte nur verwirrt mit den Schultern zucken. Er hätte erleichtert sein müssen, daß sie wie durch ein Wunder doch noch davongekommen waren, aber das genaue Gegenteil schien der Fall zu sein. Vielleicht, dachte Warstein, weil in diesem Satz ein Wort zuviel war. Sie waren nicht wie durch ein Wunder noch einmal davongekommen.

Lohmann riß seinen Blick mühsam von der leeren Straße los und drehte sich zu Angelika und ihm herum. »Irgend etwas scheint sie -« Er brach abrupt ab, als sein Blick die goldfarbene Kreatur traf, die vor Angelika auf dem Boden lag. Seine Augen wurden groß.