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Wie die meisten Arbeiter und technischen Angestellten lebte auch Warstein in dem kleinen Barackendorf, das im Schatten des eisgekrönten Giganten entstanden war. Der Ort bot alles, was zu einem einigermaßen komfortablen Überleben nötig war - aber auch nicht mehr. Die Zerstreuungsmöglic hkeiten beschränkten sich auf ein Fernsehgerät in seinem Zimmer (das die meiste Zeit nicht funktionierte, weil die Berge ringsum den Empfang beeinträchtigten), eine winzige Bibliothek und eine Sammlung von Videocassetten, die kostenlos ausgeliehen werden konnten. Aus Videos machte er sich nichts, und zum Lesen war er abends meist zu müde. Viele der anderen fuhren nach Ende ihrer Schicht nach Ascona hinunter, und ein paarmal hatte Warstein sie auch begleitet. Aber nicht oft. Die Stadt war ihm zu laut, zu bunt und zu aufgesetzt fröhlich. So war sein schlimmster Feind hier oben die Langeweile geworden, die jeden Abend in seinem Zimmer auf ihn lauerte.

Nein, er hatte nichts dagegen, noch einmal in den Berg hineinzufahren. Er hatte etwas dagegen, es für Franke zu tun.

Warstein stellte mit einem Gefühl sachter Überraschung fest, daß es bereits zu dunkeln begann, als er die Baracke verließ. Mit der Sonne war auch das letzte bißchen Wärme verschwunden. Graue Schatten hatten sich zwischen den weißgetünchten Wohncontainern eingenistet, die den Bereich vor dem Tunneleingang in ein halbmondförmiges, scharf abgegrenztes Chaos verwandelten. Zwischen den Gebäuden stritten sich stehengelassene Baumaschinen, Fahrzeuge, Werkzeugcontainer und Abraumhalden in allen nur denkbaren Größen und Ausformungen um den verbliebenen Platz, und der Regen der letzten Tage hatte den Boden aufgeweicht, so daß die überschweren Lastwagen tiefe, wassergefüllte Gräben hinterlassen hatten, die im schräg einfallenden Sonnenlicht glitzerten wie ein futuristisches Schienensystem. Der Anblick stimmte Warstein traurig. Der Berg erhob sich in seiner ganzen majestätischen Größe über ihm. Von nahem betrachtet wirkte er noch gewaltiger und großartiger als aus dem Tal, und der Schandfleck, den die Anwesenheit des Menschen hinterlassen hatte, noch häßlicher. Manchmal hatte Warstein das Gefühl, daß sie einen Frevel begingen mit dem, was sie taten, und ein- oder zweimal hatte er sich schon bei dem Gedanken ertappt, daß dieser Frevel vielleicht eines Tages gesühnt werden würde.

Aber das war natürlich Unsinn. Vielleicht, dachte Warstein, gehörte es einfach dazu, erst einmal richtig Unordnung zu machen, ehe man richtig aufräumen konnte. Sie würden es tun, und Warsteins Phantasie reichte durchaus, sich das Ergebnis dieses Aufräumens vorzustellen, was ihm ein wenig über den Anblick hinweghalf. Aber nur ein wenig.

Das Barackendorf würde verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die unvorstellbaren Mengen von Abraum und Gestein, die sie seit zwei Jahren mit der Beharrlichkeit einer Ameisenkolonie aus dem Berg herausholten, waren schon jetzt bis auf den letzten Kubikmeter verplant. Was nicht dazu diente, die zweispurige Schnellbahntrasse aufzuschütten, die auf dieser Seite in den Berg hinein- und auf der anderen wieder hinausführte, würde äußerst behutsam in die Landschaft integriert werden; keine bloße Veränderung, sondern eine Verbesserung der Natur - jedenfalls stand es so in dem aufwendigen Vierfarb-Prospekt, den die Tunnelbaugesellschaft seit Jahren mit vollen Händen verteilte, um Stimmung für das Projekt zu machen. Warstein kannte die entsprechenden Pläne und wußte auch, daß dieser Slogan durchaus berechtigt war. Trotzdem hörte er ihn mit gemischten Gefühlen. Er war nicht sicher, daß es richtig war, die Natur nach Maßstäben menschlicher Ästhetik umzugestalten.

Ein plötzlicher Windstoß traf Warstein und ließ ihn frösteln. Er trug einen langärmeligen Pullover und eine Strickjacke, aber beide setzten dem eiskalten Wind keinen nennenswerten Widerstand entgegen. Mit einem leisen Gefühl von Wehmut dachte Warstein an den pelzgefütterten Parka, der in seinem Spind in der Verwaltungsbaracke hing. Es war kalt, und im Inneren des Berges würde es noch kälter sein. Das Vernünftigste wäre, zurückzugehen und die Jacke zu holen. Aber er war nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein; und noch viel weniger in der, Franke an diesem Tag noch einmal zu begegnen. Das bißchen Kälte würde ihn nicht umbringen. Schneller, mit tief in den Taschen seiner Wolljacke vergrabenen Händen und das Gesicht aus dem Wind gedreht, ging er weiter und näherte sich dem Tunneleingang.

Kurz bevor er ihn erreichte, mußte er noch einmal zur Seite treten, um einem der überschweren Lastwagen auszuweichen, der mit fünfzig Tonnen Felsgestein und Schutt beladen aus dem Tunnel herausgerumpelt kam. Der Fahrer winkte ihm zu und blinzelte mit der Lichthupe. Warstein erwiderte den Gruß, obwohl er es lieber nicht getan hätte, denn er mußte dazu die Hand aus der warmen Tasche nehmen. Trotz der Größe des Projektes zählte das gesamte Personal gerade knapp dreihundert Mann, denn der allergrößte Teil der Arbeit wurde von Maschinen erledigt, und so war es nur natürlich, daß hier jeder jeden kannte. Und trotz der traditionellen Kluft, die zwischen Arbeitern und technischem Personal klaffte, war Warstein durchaus beliebt.

Der Wagen rumpelte auf seinen gewaltigen Ballonreifen vorbei und näherte sich einem der kleinen, von Menschenhand aufgeschütteten Berge am Ende des Plateaus, um seine Last an seinem Fuße abzuladen, und Warstein ging weiter. Nach nur zwei Schritten blieb er wieder stehen.

Über dem Tunnel, auf einem schmalen Felsgrat, der Warstein nicht einmal für eine Bergziege breit genug erschienen wäre, stand eine Gestalt und starrte ihn an. Sie blickte nicht einfach auf den Platz herunter oder in seine Richtung - der Mann stand reglos da und starrte ihn an. Obwohl die Entfernung so groß war, daß Warstein sein Gesicht nur als daumennagelgroßen hellen Fleck über dem verschlissenen grünen Cape erkannte, konnte er seinen Blick mit fast körperlicher Intensität fühlen.

Warstein blieb sicherlich zehn Sekunden reglos stehen und erwiderte den Blick des dunkelhaarigen Mannes, der dort oben im heulenden Wind stand und auf ihn herabstarrte, dann griff er in die linke Tasche seiner Strickjacke und zog ein Walkie-talkie hervor, das kaum die Größe eines handelsüblichen Walkmans hatte. Ohne auf die Kontrollen zu sehen, wechselte er die Frequenz, schaltete das Gerät ein und hob es an die Lippen.

»Sicherheit. Hier ist Warstein.«

Kaum eine Sekunde später antwortete eine verzerrte Stimme aus dem winzigen Lautsprecher. »Sicherheitsdienst. Hartmann. Was gibt's?«

»Er ist wieder da«, antwortete Warstein, noch immer, ohne den Blick von der Gestalt am Berg zu nehmen. Der Mann hatte sich nicht gerührt, aber Warstein hatte das Gefühl, daß er ganz genau wußte, was er jetzt tat. Und daß es ihm gleich war.

»Der Verrückte?« erwiderte Hartmann. Trotz der schlechten Wiedergabequalität des Minilautsprechers konnte Warstein das Erstaunen in Hartmanns Stimme hören.

»Ja. Diesmal steht er auf dem Felsgrat über dem Tunnel.«

In einer der Baracken neben ihm öffnete sich eine Tür, und er konnte eine gedrungene, in eine dunkelblaue Phantasieuniform gekleidete Gestalt erkennen, die heraustrat und zum Berg hinaufsah. Hartmann hielt das Gegenstück seines Sprechgerätes in der Rechten. Mit der anderen Hand versuchte er ungeschickt, seine Jacke zuzuknöpfen, in die er offensichtlich in aller Hast geschlüpft war.

»Das darf doch nicht wahr sein!« drang seine Stimme aus dem Sprechgerät. »Wie zum Teufel ist er da hinaufgekommen?«

»Fragen Sie sich lieber, wie Sie ihn dort wieder herunterbekommen«, antwortete Warstein. »Und zwar am besten, bevor Franke ihn sieht.« Er seufzte. Hartmann war ein netter Kerl, aber seiner Arbeit offensichtlich nicht gewachsen. Es war das fünfte oder sechste Mal binnen einer Woche, daß dieser Verrückte durch die Maschen seines Sicherheitssystems schlüpfte und auf der Baustelle auftauchte. Und hier hatte verdammt noch mal kein Fremder etwas verloren. In fünfzehn Meter Höhe an einer nahezu senkrechten Felswand schon gar nicht.