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Der ersten Stunde schloß sich eine zweite an und dieser noch ein Teil der dritten, ehe die Männer auf der anderen Seite der Mauer endlich aus ihrer Starre zu erwachen begannen.

Es geschah auf eine Weise, die fast ebenso unheimlich und bizarr war wie die Stunden völliger Reglosigkeit, in der sie bisher verharrt hatten. Sie bewegten sich, alle zugleich und wie in einem Tanz, langsam, mit bedächtigen, fast zeremoniellen Bewegungen, ein jeder für sich und auf eine andere Art, und doch in ihrer Gesamtheit wie einem nicht klar erkennbaren, aber eindeutig vorhandenen Muster folgend. Der Major hatte das Gefühl, dem Erwachen einer großen, ungemein kompliziert und zugleich ungemein präzise funktionierenden Maschine zuzusehen. Jede einzelne Geste der hundert Männer schien eine ganz bestimmte Bedeutung zu haben. Das Heben einer Hand bedingte die Bewegung eines anderen Körpers, ein Lidzucken eine Drehung, ein Atemzug einen Schritt. Wie die Zahnräder eines gewaltigen Mechanismus ineinandergreifen, so griffen diese Bewegungen und Gesten ineinander und führten in ihrer Gesamtheit zu etwas anderem, Größerem, einem Ganzen, das viel größer als die Summe seiner einzelnen Teile war und etwas noch Größeres bewirken mußte.

Es dauerte lange, ehe er erkannte, was es war.

Der Himmel.

Die Lichter und wogenden Formen waren noch da, aber ihre Bewegung war jetzt nicht mehr willkürlich, sondern kommunizierte auf eine unheimliche Weise mit der der Druiden. Es war nicht zu erkennen, was worauf reagierte - die Lichter am Himmel auf das Erwachen der Männer oder diese auf die veränderten Muster über ihnen. Es war im Grunde auch gleich. Der Major hatte seine Befehle. Auch und vor allem für diesen Fall. Und er befolgte sie präzise. Das Funkgerät, mit dem er wie jeder einzelne seiner Männer ausgerüstet war, funktionierte noch immer nicht, aber ihre Planung hatte auch für diesen Fall vorgesorgt. Er hob die Hand über den Kopf, machte eine rasche, befehlende Geste, und der Halbkreis bewaffneter Männer auf dieser Seite der Mauer zog sich enger zusammen, ohne die eigentliche Grenze zum Park zu überschreiten. Zugleich begann ein Soldat, der auf dem Dach eines der gegenüberliegenden Häuser Aufstellung genommen hatte, mit einem tragbaren Scheinwerfer Lichtsignale auf den See hinauszugeben. Nur einen Moment später wurde das Blinken von einem flackernden weißen Stern einen halben Kilometer vom Ufer entfernt beantwortet, und das Geräusch eines Motors begann sich zu nähern. Ein Schatten glitt auf das Ufer zu und wurde zu den kantigen Umrissen eines kleinen Schiffes. Auf der Brücke waren die Kennzeichen der italienischen Wasserschutzpolizei angebracht, aber hinter der niedrigen Reling standen Männer in den gleichen Umformen wie die, die die Soldaten hier trugen. Das Schiff näherte sich dem Ufer auf fünfzig Meter und hielt dann an. Mehr geschah nicht. Der Major hatte Befehl, die Druiden daran zu hindern, den Park zu verlassen, ansonsten aber auf keinen Fall einzugreifen, ganz egal, was sie taten.

Mittlerweile hatte der Tanz der Druiden ein Ende gefunden. Die Männer hatten sich allesamt erhoben und ihre Plätze an den Feuern verlassen, und nun wandten sie sich einer nach dem anderen um und begannen langsam, mit ebenso gemessenen und fast zeremoniellen Schritten, wie es die Bewegungen davor gewesen waren, auf das Ufer zuzugehen.

Nun erwachte auch der Major aus seiner Starre. Mit einer für einen Mann seines Alters und seiner Statur erstaunlichen Behendigkeit überwand er die Mauer, verfiel in einen raschen Laufschritt und begann zum Ufer hinabzueilen. Da die Druiden noch immer sehr langsam gingen, fiel es ihm nicht schwer, sie zu überholen und die dort wartenden Soldaten zu erreichen, ehe der erste der alten Männer dort war. Er mußte keinen Befehl erteilen, damit seine Soldaten reagierten.

Die Männer bildeten eine Kette hinter und zu beiden Seiten ihres Kommandanten und hoben ihre Waffen vor die Brust; eine Haltung, die so eindeutig war, daß auch die näherkommende Prozession buntgekleideter Gestalten sie begreifen mußte. Trotzdem setzten sie ihren Vormarsch fort; sehr langsam, aber auf eine Weise, die in dem Major das ungute Gefühl wachrief, daß es ihm vielleicht nicht gelingen würde, sie aufzuhalten. Zumindest nicht, ohne Gewalt anzuwenden.

Er hatte es bisher selbst nicht einmal bemerkt, aber die Zeit, die er dagestanden und die reglosen Gestalten angeblickt hatte, hatte etwas in ihm verändert. Als er gekommen war, hatte er die Männer einfach nur für seltsam gehalten. Jetzt flößten sie ihm Furcht ein. Nicht einmal wegen ihres zum Teil bizarren Äußeren. Aber etwas schien von ihnen auszugehen, unsichtbar, zugleich aber so intensiv, daß man fast meinte, es berühren zu können. Eine Aura von Macht und uraltem Wissen, die etwas in dem Major tief berührte und erzittern ließ. Er empfand noch keine wirkliche Angst, aber es kostete ihn große Überwindung vorzutreten und in einer Geste, die nicht halb so überzeugend ausfiel, wie er es sich gewünscht hätte, die Hand zu heben.

»Halt!« sagte er.

Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber der Vormarsch der Prozession kam tatsächlich für einen Moment ins Stocken. Zugleich hörten die Lichter über ihnen auf zu flackern, die Formen und Farben sich zu verändern. Es war ein bizarrer, unwirklicher Moment; als hätte die Zeit für einen Augenblick angehalten. Plötzlich hatte er Angst. Nicht vor dem, was diese Männer da vor ihm tun oder sagen konnten, sondern einfach vor dem, was sie waren.

Eine der Gestalten löste sich aus der Reihe und kam auf ihn zu. Es war ein uralter Mann in einem knöchellangen weißen Gewand, dessen Gesicht einen dunklen Teint und einen leicht asiatischen Schnitt hatte und von einem ebenfalls weißen Turban gekrönt wurde. Zwei Schritte vor dem Major blieb er stehen und sah ihn aus Augen an, deren Blick tiefer zu gehen schien als alles andere, was dem Major bekannt war. Seine Hände begannen ganz leicht zu zittern. Es fiel ihm immer schwerer, wenigstens äußerlich Ruhe zu bewahren.

»Bitte, gib den Weg frei«, sagte der Alte. Er bediente sich einer Sprache, die der Major noch nie zuvor gehört hatte, geschweige denn sprach. Und trotzdem verstand er jedes Wort.

»Das kann ich nicht«, antwortete er. »Es tut mir leid, aber ich habe meine Befehle. Bitte, seien Sie vernünftig und gehen Sie zurück.«

Die uralten Augen in dem nicht weniger alten Gesicht sahen ihn noch eine Sekunde lang durchdringend an, dann lächelte der Mann, drehte sich um und ging ohne Hast zu den anderen zurück. Kaum hatte er seinen Platz in der Reihe wieder eingenommen, gingen sie weiter.

Der Major war nicht überrascht, aber zutiefst erschrocken. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als Soldat und kommandierender Offizier wußte er nicht, was er tun sollte. Seine Befehle waren eindeutig: er durfte nicht zulassen, daß die Männer den Bereich zwischen der Straße und dem Ufer verließen. Aber zugleich wußte er auch, daß es ihm nicht gelingen würde, sie daran zu hindern. Was sollte er tun? Auf diese zum größten Teil alten, gebrechlichen Männer schießen lassen? Entschlossen kämpfte er seine Furcht nieder, trat den Männern einen weiteren Schritt entgegen und breitete die Arme aus. »Halt«, sagte er noch einmal. »Sie dürfen nicht weitergehen.«

Natürlich taten sie es trotzdem. Der Vormarsch der Männer kam nicht einmal für eine Sekunde ins Stocken. Langsam näherten sie sich dem Major, und als sie ihn erreicht hatten, geschah etwas Unheimliches: Der Soldat war entschlossen gewesen, sie nötigenfalls mit der Kraft seiner Hände zurückzuhalten, aber als der erste der alten Männer noch einen halben Meter von ihm entfernt war, trat er plötzlich einen Schritt zurück. Es war ihm unmöglich, sie zu berühren.