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»Halt!« rief er noch einmal. Seine Stimme klang plötzlich verzweifelt. »Stehenbleiben!«

Die Männer bewegten sich weiter. Die ersten erreichten die Kette der Soldaten am Wasser, und was ihrem Kommandanten widerfahren war, wiederholte sich bei ihnen. Sie wichen einer nach dem anderen zurück und zur Seite; widerwillig und wie gegen einen inneren Zwang ankämpfend, aber zugleich auch ohne zu zögern.

Der Major sah die Katastrophe kommen, aber er war nicht in der Lage zu reagieren.

Einer der Soldaten verlor die Nerven. Mit einem halblauten Schrei riß er sein Gewehr in die Höhe, legte auf die näherkommenden Männer an und schoß. Das Gewehr explodierte. Flammen und scharfkantige Metallsplitter verheerten das Gesicht des Soldaten, zerfetzten seine rechte Hand und schwärzten die Brust seiner Uniform. Mit einem gellenden Schrei ließ er die Waffe fallen, stürzte nach hinten und begann sich am Boden zu wälzen.

Der Major war der erste, der den Verletzten erreichte. Der Soldat krümmte sich am Boden und hatte beide Arme vor sein blutendes Gesicht gerissen, doch der Major wußte, was sich dahinter verbarg. Er kannte die furchtbare Wirkung dieser Waffen zu gut, um sich auch nur eine Sekunde lang einreden zu können, daß es noch irgend etwas gab, was sie für den Mann tun konnten. Es war ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Er war nur nicht sicher, ob es auch eine Gnade war.

Als er neben dem Sterbenden niederkniete und die Hände nach ihm ausstrecken wollte, sagte eine befehlende Stimme hinter ihm: »Halt!«

Ganz instinktiv zog er die Hände wieder zurück und sah auf. Über ihm stand ein junger, ganz in Schwarz gekleideter Mann. Es war dem Major ein Rätsel, wie er hierhergekommen war. Davon einmal abgesehen, daß die Soldaten das Ufer in weitem Umkreis abgesichert hatten, war er vollkommen sicher, ihn vorher noch nicht gesehen zu haben. Und das war nicht das einzig Erstaunliche an ihm. Er trat einen Schritt auf den Major und den Verletzten zu. Einer der anderen Soldaten versuchte ihm den Weg zu vertreten. Es blieb bei dem Versuch. Er lächelte, und nach einer Sekunde wich der Ausdruck nervöser Entschlossenheit auf den Zügen des Soldaten einem fassungslosen Erstaunen. Nach einer weiteren Sekunde senkte er seine Waffe und trat beiseite.

Der Fremde kniete neben dem Verletzten nieder. Es dauerte nur einen Moment, bis auch der Major vor ihm zurückwich, wenn auch diesmal nicht aus Furcht. Das Gefühl war anders als das, das er in der Nähe der Druiden gehabt hatte. Der Schwarzgekleidete flößte ihm keine Angst ein. Vielmehr strahlte er eine ungeheure Autorität aus, die nichts mit Macht zu tun hatte. Es war die Autorität dessen, der wußte, was er tat, und der es richtig tat, immer und unter allen Umständen. Reglos vor Staunen und Ehrfurcht sah der Major zu, wie er behutsam die Hände des Verletzten beiseite schob und dann sein blutiges Gesicht berührte.

Der Soldat wimmerte vor Schmerz und versuchte die Hände des Fremden beiseite zu schlagen. Dann aber entspannte er sich so plötzlich und so total, daß der Major im ersten Moment nicht mehr sicher war, ob er noch lebte. Doch dann sah er, daß sich seine Brust weiter hob und senkte. Sein rechtes Auge war zerstört, aber das andere stand offen und blickte den Fremden ruhig an. Weder Schmerz noch Furcht waren jetzt darin zu erkennen.

»Hab keine Angst, Bruder«, sagte der Fremde. Er lächelte, und obwohl dieses Lächeln nicht dem Major galt, spürte auch er etwas von der Zuversicht und Wärme, die es verströmte und mit der es den Sterbenden erfüllte. Der Fremde nahm ihm wenigstens in seinen letzten Sekunden noch den Schmerz und die Angst. Es spielte überhaupt keine Rolle, wie und warum oder wer er war. Mittlerweile hatte die Prozession der Druiden das Wasser erreicht. Der Major hätte selbst nicht sagen können, was er erwartet hatte - aber nicht das. Die Männer gingen einfach weiter. Das Wasser reichte ihnen bis an die Knöchel, dann zu den Knien, schließlich bis zu den Hüften, aber sie gingen immer noch unbeirrt weiter. Sie bringen sich um! dachte er. Vielleicht fühlten sie sich unverwundbar, durch den Hokuspokus, den sie aufgeführt hatten, aber das einzige, was bei diesem Wahnsinn herauskommen konnte, waren einhundert Leichen, die im Wasser trieben.

»Aufhalten!« befahl der Major. Er sprang hoch, unterstrich seinen Befehl mit einer entsprechenden Geste und wiederholte ihn noch einmal und lauter: »Haltet sie auf!«

Zwei oder drei Soldaten versuchten tatsächlich, dem Befehl zu folgen, aber sie kamen nicht einmal in die Nähe der Männer. Nach einigen Schritten blieben sie wieder stehen. Die Prozession setzte ihren Weg ins Verderben unbeirrt fort. »Um Gottes willen, bleibt doch stehen!« rief der Major.

Seine Schreie verhallten ungehört. Die Männer gingen einfach weiter. Das Wasser reichte dem ersten jetzt bis zur Brust.

Der Major hob den Arm und machte eine befehlende Geste. Der Motor eines Polizeibootes dröhnte. Nach einem weiteren Befehl hoben die Männer auf dem Schiff ihre Gewehre und feuerten eine Salve ab. Dicht vor den Druiden spritzte das Wasser auf, in einer präzise wie mit einem Lineal gezogenen Linie, die zeigte, wie perfekt die Männer mit ihren Waffen umzugehen wußten. Trotzdem bewegten sich die Druiden noch immer weiter. Das Wasser reichte dem ersten jetzt bis zum Hals.

Einen Moment lang erwog der Major ernsthaft den Gedanken, das Feuer auf sie eröffnen zu lassen. Vielleicht war es immer noch besser, zwei oder drei Verletzte in Kauf zu nehmen, als tatenlos zuzusehen, wie annähernd hundert Männer aus einem religiösen Wahn heraus in den sicheren Tod gingen.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Der Scheinwerfer des Polizeibootes begann zu zittern. Die Lichter oben am Himmel flackerten stärker, und plötzlich wehte ein Chor überraschter Rufe und Schreie zum Ufer herauf. Das Wasser lag nicht mehr still. Eine immer schneller werdende Folge anwachsender Wellen begann sich halbkreisförmig von der Spitze der Prozession her auszubreiten. Das Polizeiboot schwankte immer heftiger. Die Wellen waren längst nicht stark genug, das Boot wirklich in Gefahr zu bringen, aber an ein gezieltes Schießen war nicht mehr zu denken.

»Verdammte Idioten«, flüsterte der Major. »Dann bringt euch doch um!« Die Männer marschierten unbeeindruckt weiter, und es vergingen nur noch wenige Sekunden, bis sich die dunklen Wogen des Lago Maggiore über den Köpfen der ersten Gestalten schlossen.

Die Fahrt durch den Tunnel hatte etwas von einem Alptraum. Warstein wußte, daß sie kaum länger als eine halbe Stunde gedauert haben konnte, denn es war ein Wagen der gleichen Art wie die, die sie damals beim Tunnelbau eingesetzt hatten, und obwohl rings um sie herum vollkommene Finsternis herrschte, konnte er die Geschwindigkeit fühlen, mit der sie sich fortbewegten. Aber für ihn - und für die beiden anderen wohl auch - wurde diese halbe Stunde zu einer Ewigkeit, in der jede Sekunde mit banger Erwartung angefüllt war und mit Furcht vor dem, was sich in der Dunkelheit verbergen konnte.

Und anders als sonst war diese Angst ganz konkret, denn die Schwärze hier war mehr als die Abwesenheit von Licht, vielleicht die Leinwand, auf der die Schrecken, die ihr Unterbewußtsein gebären mochte, nur zu real werden konnten. Was auch immer er sich auf dem Weg zum Tunnel selbst einzureden versucht hatte, er hatte den Umstand begrüßt, daß sie offensichtlich in der Lage waren, die Realität kraft ihrer Gedanken und Wünsche zu beeinflussen, und bisher hatte er sich ja auch als Segen erwiesen.

Das mußte nicht so bleiben. Hier, in dieser schwarzen, scheinbar endlosen Röhre, in der sie allein mit sich und ihren Ängsten und Erwartungen waren, konnten sich ihre neu gewonnenen Fähigkeiten nur zu leicht als Fluch erweisen und vielleicht als tödliche Gefahr. Lohmanns einfacher Wunsch nach einem Transportmittel hatte gereicht, es erscheinen zu lassen. Vielleicht reichte seine Furcht vor den Schrecken dieser Schwärze - oder die Angelikas oder auch seine eigene - ja auch aus, daß diese Gestalt annahm.