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Warstein versuchte, seine Gedanken mit Gewalt auf etwas anderes zu konzentrieren. Je mehr er aber versuchte, nicht an seine Angst und die apokalyptischen Schrecken zu denken, desto intensiver dachte er daran. Und so wurde die Fahrt zumindest für ihn zu einer Reise durch die Hölle, auf der er innerlich um hundert Jahre alterte und die kein Ende zu nehmen schien. Schließlich wurde es vor ihnen doch wieder hell. Es war nicht das Ende des Tunnels, das sie sahen - das Licht war gelb und zu hart, um natürlichen Ursprungs zu sein, und draußen herrschte ja auch noch immer tiefste Nacht. Obwohl der Elektrowagen mit sicherlich zwanzig oder dreißig Stundenkilometern über die Schienen rollte, näherten sie sich ihm nur sehr langsam. Warstein schätzte, daß sie noch einmal zwei oder drei Kilometer zurücklegten, ehe aus dem verschwommenen gelben Fleck, der irgendwo in der Dunkelheit schwamm, ein von Schatten und schwarzen Umrissen erfüllter Halbkreis wurde und sie Einzelheiten erkennen konnten.

Der gesamte Tunnel war hell erleuchtet, nicht nur von den unter der Decke befestigten, sondern auch durch eine Anzahl großer Scheinwerfer, die ganz offensichtlich nicht zur normalen Ausstattung des Bauwerkes gehörten, sondern nachträglich angebracht worden waren, um das zu beleuchten, was vor ihnen auf den Schienen stand. Der Wagen wurde langsamer, als sie sich dem erleuchteten Bereich näherten, und hielt schließlich ganz an. Warstein verlor kein Wort darüber, aber ihm entging auch nicht, daß Lohmann, der am Steuerpult des kleinen Elektrowagens stand, die Kontrollen nicht berührt hatte. Wortlos stiegen sie ab und näherten sich den beiden Zügen, die nebeneinander auf den beiden Gleisen standen. Ihre Schritte, die in der hohen, endlos langen Betonröhre unheimliche, verzerrte Echos hervorriefen, wurden immer langsamer, bis sie schließlich ganz anhielten, aber es vergingen auch dann noch lange, endlose Sekunden, ehe Lohmann als erster das betäubende Schweigen brach, das Besitz von ihnen ergriffen hatte.

»So ist das also«, sagte er. »Von wegen: Terroranschlag!« Er klang schockiert und zutiefst erschrocken.

Warstein war nicht einmal in der Lage, irgend etwas darauf zu erwidern. Vielleicht war er von ihnen derjenige gewesen, der noch am ehesten hätte ahnen können, was sie erwartete.

Die beiden Züge, die in der gleichen Fahrtrichtung nebeneinander auf den Schienensträngen standen, hätten sich ähneln können wie ein Ei dem anderen, wären sie nicht in völlig unterschiedlichem äußerem Zustand gewesen. Es waren zwei Hochgeschwindigkeitszüge vom Typ ICE 2000 der Deutschen Bundesbahn, und keiner von ihnen war älter als zwei Jahre - das konnten sie nicht sein, denn diese letzte Generation superschneller Eisenbahnzüge war erst vor kurzem in Dienst gestellt worden.

Trotzdem sah einer davon aus, als stünde er seit mindestens einem Jahrhundert hier; vielleicht auch seit einem Jahrtausend.

»Ich wußte es«, sagte Lohmann. »Sie haben gelogen. Sie haben die ganze Welt an der Nase herumgeführt!«

»Aber was ist denn hier nur passiert?« murmelte Angelika. Auch sie klang vollkommen fassungslos, erschrocken und zutiefst aufgewühlt wie Warstein. Vielleicht hätte er ihre Frage sogar beantworten können, aber er war in diesem Moment nicht fähig, auch nur irgendein Wort zu sagen. Er brachte nicht einmal die Kraft auf, seinen Blick von dem zerfallenen, von Rost und Alter zerfressenen Eisenbahnwrack zu lösen, das vor ihnen auf den Schienen thronte wie ein Symbol für die Vergänglichkeit aller menschlichen Schöpfung.

An seiner Stelle war es Lohmann, der antwortete. »Auf jeden Fall waren es keine Terroristen«, sagte er. »Es sei denn, sie haben den Begriff Zeitbombe vollkommen neu definiert.« Er lachte, aber der Scherz entspannte den Moment nicht, sondern erfüllte Warstein mit einem eisigen Schaudern und Angelikas Gesicht mit einem Ausdruck nackter Angst. »Das muß der andere Zug sein«, sagte Lohmann mit einer Geste auf den zweiten ICE. »Der, von dem der alte Mann erzählt hat. Sie haben ihn hierhergeschafft. Deshalb also hat man ihn nie wieder gesehen. Unglaublich.«

»Was ist daran so erstaunlich?« wollte Angelika wissen. »Sie wollten ihn wahrscheinlich nur in Ruhe untersuchen und -«

»Wissen Sie, was so ein Ding kostet?« unterbrach sie Lohmann. Er machte ein abfälliges Geräusch und schüttelte zugleich heftig und mehrmals hintereinander den Kopf. »Wir reden hier nicht über einen Kleinwagen, Süße. Die Dinger da kosten Millionen, viele, viele Millionen.«

»Und?« fragte Angelika. Sie verstand immer noch nicht, worauf Lohmann hinauswollte.

»Glauben Sie wirklich, daß die Deutsche Bundesbahn zwei Züge im Wert von hundert Millionen Mark hier ein Jahr lang versteckt, wenn es sich nicht wirklich um etwas Großes handelt?« fragte Lohmann.

»Kaum«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Außerdem irren Sie sich. Sie kosten mehr als zweihundert Millionen - das Stück.«

Warstein, Lohmann und Angelika fuhren in einer einzigen, gleichzeitigen Bewegung herum, und Franke trat vollends hinter dem Zug hervor und fuhr mit einem angedeuteten Lächeln fort: »Die Zahlen wurden ein bißchen geschönt, weil sie Angst hatten, daß die Bahnkunden bei der nächsten Preiserhöhung noch verärgerter reagieren könnten. Die Waggons mitgerechnet, steht hier fast eine halbe Milliarde. Ein irgendwie beeindruckender Gedanke, finden Sie nicht?« Hinter ihm trat eine zweite Gestalt auf die Schienen heraus. Der Mann konnte nur wenig jünger als Franke sein, war aber von weitaus kräftigerer Statur und wirkte in seinem ganzen Wesen agiler. Er hatte graues Haar und aufmerksame, wache Augen, die ständig in Bewegung waren und denen nicht die kleinste Kleinigkeit entging. Er war in einen dunkelgrauen Anzug gekleidet, der teuer gewesen sein mußte, jetzt aber ein wenig verschlissen wirkte; und so, als hätte er mindestens drei Tage darin geschlafen. Obwohl er sehr aufmerksam wirkte, machte er zugleich einen erschöpften Eindruck. Die rechte Hand hatte er scheinbar lässig in der Jackentasche vergraben. Warstein vermutete, daß er eine Waffe darin trug.

»Franke!« sagte Lohmann. Er trat einen Schritt auf den Wissenschaftler zu, blieb abrupt wieder stehen und sagte noch einmaclass="underline" »Franke! Sie -«

»Bitte!« Franke hob die Hand, aber Warstein konnte nicht einmal sagen, ob die Geste Lohmann galt oder seinem Begleiter, der mit einer raschen Bewegung an Frankes Seite getreten war. Er war mehr als einen Kopf kleiner als Lohmann, aber Warstein zweifelte keine Sekunde daran, daß er dem Journalisten trotzdem hoffnungslos überlegen war, wenn er es auf eine körperliche Auseinandersetzung angelegt hätte. Franke war kein Narr. Zweifellos wußte er mittlerweile, wer Lohmann war und was für einen Charakter er hatte. »Ich verstehe durchaus, daß Sie nicht gut auf mich zu sprechen sind, Herr Lohmann«, fuhr Franke fort. »Und von Ihrem Standpunkt aus haben Sie wahrscheinlich sogar recht damit. Aber jetzt ist nicht der Moment, uns um persönliche Animositäten zu kümmern. Ich bin sicher, Herr Warstein wird Ihnen das bestätigen.«

»Ich werde Ihnen zeigen, wozu jetzt der Moment ist!« drohte Lohmann. Er reckte kampflustig die Schultern, bedachte Frankes Begleiter mit einem herausfordernden, aber auch unübersehbar vorsichtigen Blick und schien darauf zu warten, daß dieser oder Franke selbst in irgendeiner Art auf seine Worte reagierten. Anscheinend, dachte Warstein, hatte er immer noch nicht begriffen, worum es hier wirklich ging. Oder er wollte es nicht.

Franke ignorierte ihn einfach. Vollkommen unbeeindruckt von Lohmanns drohender Haltung ging er an ihm vorbei und blieb dicht vor Warstein stehen. »Sie haben lange gebraucht«, sagte er. »Ich hatte schon Angst, daß Sie es nicht schaffen. Aber ich sehe, daß ich mich nicht in Ihnen getäuscht habe.«