»So wenig wie ich mich in Ihnen«, antwortete Warstein. Er fragte sich, warum er das sagte. Franke hatte recht - jetzt war nicht der Moment für solche albernen Spielchen.
Franke senkte für einen Moment den Blick und sah traurig zu Boden. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie hassen mich immer noch. Das ist schade.«
»Hassen?« Seine Vernunft schrie ihm zu, daß jede einzelne Sekunde jetzt einfach zu kostbar war, um sie damit zu vergeuden, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Aber die Worte hatten zu lange darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Sie mußten einfach heraus.
»Warum sollte ich Sie hassen, Franke?« fragte er höhnisch. »Sie haben nur mein Leben zerstört. Sie haben meine Karriere ruiniert, mich in den finanziellen Ruin getrieben und letztendlich dafür gesorgt, daß meine Ehe zum Teufel geht. Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen die paar Kleinigkeiten übelnehme? Sie tun mir unrecht.«
»Und Sie mir«, erwiderte Franke ernst. »Sie haben recht, mit jedem Wort. Falls wir noch Gelegenheit dazu finden, werde ich gerne öffentlich Abbitte tun und alles wieder gutmachen - so weit es in meiner Macht steht. Aber damals glaubte ich, im Recht zu sein. Ich glaubte so handeln zu müssen. Wenn Sie mir nur einen Moment zuhören, werden Sie mich verstehen.«
»Werde ich das?« Warstein ballte die Hände zu Fäusten. Es war nur ein Ausdruck seiner Ohnmacht, aber Franke sah die Bewegung. »Nennen Sie mir nur einen einzigen Grund, warum ich Ihnen nicht den Schädel einschlagen sollte.«
Sein Begleiter machte erneut einen Schritt, der ihn an Frankes Seite brachte, aber wieder hob Franke rasch und beruhigend die Hand. »Lassen Sie nur, Rogler«, sagte er. »Er meint es nicht so.«
»Nein? Tue ich das nicht?« fragte Warstein.
»Nein«, behauptete Franke. »Nicht nachdem Sie das hier gesehen haben. Sie haben gewußt, was sie vorfinden würden, nicht wahr? Deswegen sind Sie auch hierhergekommen, statt nach Ascona.«
Die Worte waren nicht im Tonfall einer Frage gestellt. Warstein schwieg. Franke mußte dieses Schweigen falsch auslegen, aber er hatte das Gefühl, daß alles, was er jetzt sagen konnte, die Situation nur schlimmer machen würde. In den zurückliegenden drei Jahren hatte es nicht einen Tag gegeben, an dem er sich diese Situation nicht mindestens einmal ausgemalt hatte, in immer verschiedenen Variationen, aber stets mit dem gleichen Ausgang: der Moment, in dem er Franke gegenüberstand und dieser endlich zugab, wer damals im Recht gewesen war. Trotzdem war es aber jetzt anders. Er empfand keinerlei Triumph, nicht einmal eine Spur von Erleichterung. Ihr Kampf, der von Anfang an so ungleich gewesen war, war endlich vorüber, und er hatte ihn eindeutig gewonnen. Es hatte aber bis zur allerletzten Sekunde gedauert, bis er begriff, daß es dabei keinen Sieger gab.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Was wollen Sie, Franke?«
»Ihre Hilfe«, antwortete Franke. Sein Gesicht blieb dabei vollkommen ausdruckslos, aber Warstein spürte, welch ungeheure Überwindung es ihn kostete, diese beiden Worte auszusprechen.
»Hilfe?« erwiderte er verblüfft.
»Bitte, Warstein!« Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war von Frankes Beherrschung nichts mehr übrig. Die mühsam aufrechterhaltene Maske der Ruhe und gespielten Gelassenheit fiel von ihm ab, und dahinter kam der wirkliche Franke zum Vorschein: ein Mann, der völlig verzweifelt und sichtbar am Ende seiner Kräfte war. »Sie können mir sagen, was Sie wollen. Sie können mit mir machen, was Sie wollen - wenn Sie wirklich glauben, es tun zu müssen, dann bringen Sie mich um, meinetwegen, aber nicht jetzt. Helfen Sie mir, das hier zu beenden!«
»Aber das kann ich nicht«, antwortete Warstein wahrheitsgemäß. Er war irritiert, denn er spürte, daß das, was Franke sagte, in diesem Moment vollkommen aufrichtig gemeint war. Plötzlich begriff er, daß Franke sich von ihm eine Hilfe erwartet hatte, die er ihm nicht geben konnte. Aber ihm wurde auch erst in diesem Moment klar, daß es umgekehrt genauso war. Trotz allem hatte er geglaubt, daß Franke ihm helfen konnte. Er hatte diesem Gedanken niemals gestattet, sich so klar zu artikulieren, doch er war zutiefst davon überzeugt gewesen, daß es ausreichte, Franke dazu zu zwingen, seinen Fehler von damals zuzugeben. Aber das war nicht so. Sie hatten gegenseitig auf eine Hilfe gehofft, die keiner dem anderen zu geben vermochte.
»Ich weiß nicht, was hier geschieht, Franke«, sagte er. »Und ich weiß noch viel weniger, was ich dagegen tun kann.«
Franke starrte ihn an. Fünf Sekunden, zehn, zwanzig, in denen die verzweifelte Hoffnung in seinen Augen erlosch und einem Ausdruck von Panik Platz machte, die schließlich zu einem resignierenden Entsetzen wurde. Er wußte, daß Franke die Wahrheit sagte. Er las es so deutlich in seinen Augen, wie dieser umgekehrt spürte, daß auch Warstein ihn nicht belog.
»Dann ist alles verloren«, sagte er leise.
»Was ist verloren?« mischte sich Lohmann ein.
Franke sah nicht einmal zu ihm auf, sondern blickte weiter in Warsteins Gesicht, aber dann beantwortete er die Frage doch: »Wir alle. Sie, ich, die Menschen dort draußen...«
»Wie melodramatisch«, höhnte Lohmann. »Aber vielleicht hätten Sie sich das ein bißchen eher überlegen sollen. Zum Beispiel, bevor Sie angefangen haben, mit Dingen herumzuspielen, von denen Sie nichts verstehen!«
»Bitte, Lohmann, seien Sie still«, sagte Warstein. An Franke gewandt, fuhr er fort: »Was meinen Sie? Wir haben gesehen, was auf der anderen Seite des Berges passiert ist. Ist es in Ascona auch so schlimm?«
»Schlimm?« Franke sah ihn durchdringend an. Er wirkte überrascht. »Sie wissen noch gar nicht, was passiert ist, nicht wahr?«
»Was ist passiert?« fragte Warstein betont.
»Die ganze Welt dort draußen geht zum Teufel, das ist passiert«, antwortete Frankes Begleiter an dessen Stelle. »Jedenfalls behauptet er das.«
Warstein sah den Grauhaarigen zum ersten Mal aufmerksamer an und versuchte zugleich, sich an seinen Namen zu erinnern. Rogler. Franke hatte ihn Rogler genannt. Es war das erste Mal, daß er sprach, seit Franke und er aufgetaucht waren, und seine Stimme verriet weit mehr als das, was er sagte. Es war die Stimme eines Mannes, der wußte, daß das, wovon er sprach, die Wahrheit war, sich aber mit aller Macht selbst davon zu überzeugen versuchte, daß er sich irrte. Warstein betrachtete ihn noch einen Augenblick lang verwirrt, dann wandte er sich wieder an Franke.
»Erzählen Sie«, bat er.
Franke seufzte. »Gut«, sagte er. »Aber nicht hier. Kommen Sie.«
Er drehte sich um und machte zwei Schritte in die Richtung, aus der Rogler und er gekommen waren, ehe er merkte, daß Warstein und die beiden anderen ihm nicht folgten.
»Keine Angst«, sagte er. »Es ist keine Falle. Wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich es geschickter anstellen können.« Er machte eine einladende Geste in Angelikas Richtung. »Vielleicht kann ich wenigstens noch etwas für Sie tun, meine Liebe. Sie sind doch hier, weil Sie Ihren Mann finden wollen, oder? Kommen Sie - ich bringe Sie zu ihm.«
Ascona fiel der Gewalt anheim. Jetzt glich es einem Hexenkessel. Die Panik, von der Rogler noch am Abend geglaubt hatte, daß sie ihnen erspart bleiben würde, kam nun doch, und dafür um so schlimmer.
Das Flackern der Lichter am Himmel, der Anblick der Soldaten, die Hubschrauber und das, was sich am See abspielte, begann immer mehr an den Nerven der Menschen zu zerren, so daß es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis sich die aufgestaute Furcht auf die eine oder andere Weise entladen hatte. In einem Teil der Stadt war der Strom ausgefallen, und in ganz Ascona die Telefone, Fernsehgeräte, Radio- und Funkempfänger. Die Stadt war blind, taub und zum Teil gelähmt, und die Menschen reagierten darauf, wie sie zu allen Zeiten auf Ausnahmesituationen reagiert hatten: mit Furcht, Panik und Flucht. Wer ein Automobil oder ein anderes Fahrzeug besaß, versuchte die Stadt zu verlassen. Niemandem gelang es. Der Verkehr, der schon im Laufe des Abends zusammengebrochen war, staute sich binnen Minuten zu einer unüberwindlichen Barriere aus Blech und Kunststoff, die nicht nur die drei aus der Stadt herausführenden, sondern auch alle anderen Straßen praktisch unpassierbar machte.