Es kam zu Unfällen, sinnlosen Kämpfen um einen Platz in einem Wagen, der sowieso nirgendwo mehr hinfahren würde, zahlreichen Ausbrüchen blinder, sinnloser Gewalt, die Verletzte und Tote forderten. Eine Welle aus Furcht und Gewalt raste durch die Stadt wie ein unsichtbares Feuer, das aus sich selbst heraus immer mehr Nahrung gewann und größer und heißer wurde, mit jeder Sekunde, die es brannte. Es war nicht nur die Angst vor dem, was geschehen war, die die Menschen um den Verstand brachte; nicht nur der Schock, von einer Sekunde auf die andere blind und taub, isoliert und völlig abgeschnitten von der übrigen Welt und ihrem gewohnten Leben zu sein.
Etwas griff nach den Menschen und stülpte sie innerlich um. Die dünne Tünche aus Zivilisation und antrainierten Verhaltensmustern zerbrach, und darunter kam das Raubtier zum Vorschein, das nur einem einzigen Instinkt folgte: überleben, ganz gleich wie. Furcht gebar Furcht, und in der neuen Situation, in der ein Leben lang unterdrückte Ängste Gestalt annahmen und in der ein Gedanke töten konnte, begannen sich ihre Bewohner gegenseitig umzubringen. An zahlreichen Stellen brach Feuer aus, und an der Seilbahnstation am nördlichen Stadtrand kam es zu einer regelrechten Schlacht um die Plätze in den Gondeln, die noch fuhren, weil niemand mehr da war, der sie hätte abschalten können. Die erste Gondel verließ die Station mit der dreifachen Anzahl der vorgesehenen Passagiere, die zweite war so überladen, daß sie nach wenigen Metern zerbrach und dabei das Drahtseil zerriß, so daß auch ihre Vorgängerin mit in die Tiefe stürzte. Die Kämpfe, die an der Ablegestelle der Fähre tobten, forderten noch mehr Opfer. Es war längst niemand mehr da, der das Boot hätte fahren können - der Kapitän und die Besatzung waren die ersten gewesen, die von der Menge, der sie sich in den Weg zu stellen versucht hatten, einfach niedergetrampelt wurden. Die Fähre war für zweihundert Personen gebaut. Als sich die gut fünffache Anzahl von Menschen auf ihrem Deck drängelte, brach sie in Stücke und sank. Und das war erst der Anfang.
Wie sich zeigte, war Franke doch nicht ganz so allein gewesen, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Auf der anderen Seite des Zuges erwartete sie ein ganzes Dutzend Soldaten, die ganz ähnlich gekleidet waren wie die Männer, die sie draußen gesehen hatten: in olivgrüne Tarnanzüge, deren Abzeichen Aufschluß über den militärischen Rang ihrer Träger, aber nicht über ihre Nationalität gaben. Die Männer hatten ihre Gewehre über die Schultern gehängt und folgten ihnen in gut fünfzehn Metern Abstand; weit genug, sie nicht zu einer unmittelbaren Bedrohung werden zu lassen, aber auch nahe genug, um jederzeit eingreifen zu können.
Warstein bedachte die Bewaffneten nur mit einem flüchtigen Blick, aber Lohmann konnte sich eine spitze Bemerkung natürlich nicht verkneifen. Franke nahm sie kommentarlos zur Kenntnis, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Ganz offensichtlich fragte er sich dasselbe wie Warstein: was um alles in der Welt nämlich dieser Narr bei ihnen zu suchen hatte.
Sie hatten sich etwa fünfhundert Meter von den beiden Zügen entfernt, als Franke wieder stehenblieb und sich dann nach rechts wandte. Er hatte die Zeit genutzt, Warstein mit knappen Worten zu berichten, was sich in den letzten Tagen in Ascona und oben in den Bergen ereignet hatte, und Warstein hatte so gebannt zugehört, daß er die Tür, die in die graue Kunststoffverkleidung der Tunnelwand eingelassen war, bisher nicht einmal bemerkt hatte. Und hätte er es, hätte er sie vermutlich für den Zugang zu einem der Versorgungsräume gehalten, die es in regelmäßigen Abständen im gesamten Tunnel gab.
Aber das war es nicht.
Einem etwas weniger aufmerksamen Beobachter wäre der Unterschied wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, und einem, der in einem mit mehr als dreihundert Stundenkilometern vorüberrasenden Zug saß, sogar ganz bestimmt nicht - aber es war keine normale Tür. Anstelle eines Griffes hatte sie eine Nummerntastatur, und aus der Wand rechts neben der Tür starrte das ausdruckslose Auge einer Weitwinkel-Videokamera. Franke bedeutete ihm mit einer Geste zurückzubleiben, trat an die Tür heran und tippte eine Ziffernfolge in die Tastatur, wobei er sich so postierte, daß weder Warstein noch einer seiner Begleiter seine Hände sehen konnten. Ein heller Summton erklang. Unter der Kamera leuchtete ein grünes Licht auf, aber die Tür öffnete sich erst, nachdem Franke laut und deutlich seinen Namen und eine weitere, aus sieben Ziffern bestehende Nummer in ein Mikrofon darunter gesprochen hatte, das an einen Computer angeschlossen war.
»Das ist ja wie in einem James-Bond-Film«, witzelte Lohmann. »Was kommt als nächstes? Müssen wir das rechte Auge gegen eine Kamera drücken, damit unsere Netzhaut fotografiert wird?«
»Nein«, sagte Franke ruhig. »Das wäre nur nötig, wenn Sie dauernden Zugang zu der Anlage hätten. Als Besucher reicht ein normales Foto. Außerdem verwenden wir die Technik der Retina-Abdrucke schon lange nicht mehr. Zu anfällig, wissen Sie? Wir favorisieren Kirlian-Fotografie. Keine zwei Menschen auf der Welt haben die gleiche Aura, und sie verändert sich nie.«
Er blieb bei diesen Worten vollkommen ernst, und so sehr sich Warstein auch anstrengte, es gelang ihm nicht vollkommen, sich selbst davon zu überzeugen, daß Franke den Journalisten nur auf den Arm nahm. Und auch Lohmanns Scherz war plötzlich gar nicht mehr so komisch - spätestens, als die Tür mit einem leisen Zischen aufglitt. Denn als er sah, daß sie gute zwanzig Zentimeter dick war und allem Anschein nach aus massivem Panzerstahl bestand, hatte er plötzlich das Gefühl, tatsächlich in die Kulissen eines Science-fiction-Filmes geraten zu sein.
Franke machte eine einladende Geste, aber Warstein zögerte instinktiv, ihr zu gehorchen. Hinter der Panzertür befand sich ein kleiner, vollkommen kahler Raum von kaum zwei mal zwei Metern. »Was bedeutet das, Franke?« fragte er. »Was ist das?«
»Gleich«, antwortete Franke ausweichend. »Ich erkläre Ihnen alles. Aber nicht hier. Bitte.«
Warstein, Angelika, Lohmann, Rogler und schließlich Franke selbst betraten die Kammer, während die Soldaten draußen zurückblieben. Die Tür begann sich von selbst zu schließen, kaum daß Franke als letzter hindurchgetreten war. Warstein erwartete, daß sich nun ein zweiter Ausgang auf der anderen Seite öffnen würde, denn zweifellos befanden sie sich in einer Art Schleuse. Doch statt dessen erwachte ein Teil der scheinbar fugenlosen Seitenwand zu flimmerndem Leben und wurde zu einem Bildschirm, auf dem das Gesicht eines uniformierten jungen Mannes zu sehen war.
»Professor Franke mit vier Besuchern«, erklärte Franke. »Zugangscode Alpha. Bitte, lassen Sie uns herein.«
»Einen Moment, Herr Professor«, antwortete der Uniformierte. Sein Blick fixierte eine Sekunde lang einen Punkt, der außerhalb des Aufnahmebereiches der Kamera lag. Ein leises Klicken erscholl, und in der Wand unter dem Bildschirm öffnete sich eine schmale Klappe.
Franke griff hinein und zog fünf in durchsichtiges Plastik eingeschweißte Kärtchen heraus. Die oberste, rote, befestigte er mit einer routinierten Bewegung am Revers seiner Jacke, die vier anderen, grünen, verteilte er scheinbar wahllos an sie.
»Bitte geben Sie gut darauf acht«, sagte er. »Sie müssen Sie jederzeit bei sich tragen, solange Sie sich in der Anlage aufhalten. Wenn Sie sie auch nur eine Sekunde aus der Hand legen, löst der Computer automatisch Alarm aus.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Wir haben ziemlich strenge Sicherheitsvorschriften hier.«
»Aber das ist doch lächerlich!« sagte Lohmann. Er drehte das Kärtchen hilflos in der Hand. »Was soll denn das alles?«
»Wie gesagt, Sie werden mich gleich verstehen«, antwortete Franke. »Bitte.« Lohmann heftete den Ausweis widerwillig an seine Jacke, und im selben Moment begann sich die innere Tür der Kammer zu öffnen. Sie war nicht annähernd so dick wie die äußere, aber immer noch hinlänglich massiv, um auch einem ernstgemeinten Versuch standzuhalten, sie aufzubrechen.