Dahinter erwartete sie ein kurzer, von kaltem Neonlicht erhellter Gang, von dem ein halbes Dutzend Türen abzweigten. Wände und Decke bestanden aus nacktem, nur grob geglättetem Fels, über den sich ein wahres Gespinst von Drähten, Kabeln, verschiedenfarbigen Leitungen und Versorgungsschächten zog. Sie hörten Stimmen, das geschäftige Summen und Piepsen elektronischer Geräte und darunter ein dunkles, rhythmisches Dröhnen wie das Schlagen eines mechanischen Herzens. Sämtliche Türen waren geschlossen, so daß sie nicht in die dahinterliegenden Räume hineinsehen konnten, aber Warstein hatte plötzlich eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was sie dahinter erblicken würden.
Lohmann offensichtlich nicht, denn er blieb mit einer demonstrativ heftigen Bewegung stehen und sagte: »Also gut. Was ist das hier? Das geheime Labor von Doktor Fu-Man-Schu? Ich gehe keinen Schritt weiter, ehe ich nicht ein paar Antworten bekomme.«
Franke blieb erstaunlich ruhig. »Aus keinem anderen Grund habe ich Sie hier hereingebracht, Herr Lohmann«, sagte er. »Bitte gedulden Sie sich nur noch ein paar Minuten.« Er wandte sich an Angelika. »Ich habe Ihnen etwas versprochen. Aber ich fürchte, ich habe keine gute Nachricht für Sie.«
»Frank?« fragte Angelika.
»Ihr Mann, ja.« Franke nickte. »Sie hatten recht. Er ist hier. Ebenso wie die anderen.«
»Ist er tot?« fragte Angelika. Ihre Stimme klang gefaßt. Wahrscheinlich hatte sie sich auf dem Weg hierher gegen jede nur denkbare schlechte Nachricht gewappnet.
»Tot?« Franke wirkte im ersten Moment beinahe überrascht, fast so, als hätte er diese Möglichkeit noch gar nicht in Betracht gezogen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, tot ist er nicht. Aber ... kommen Sie. Es spielt jetzt auch keine Rolle mehr, wenn Sie alles sehen.«
Er ging weiter, steuerte eine Tür am Ende des Ganges an und gab erneut eine Nummernfolge in die Tastatur ein, die sie anstelle einer Klinke hatte; wie übrigens jede Tür hier drinnen. Mit einem leisen Klicken öffnete sie sich, und Franke trat rasch hindurch. Angelika und die anderen folgten ihm.
Vor ihnen lag ein überraschend großer, unregelmäßig geformter Raum, den große Lampen in unangenehme Helligkeit tauchten. Die halbrunde Decke spannte sich sicherlich zehn oder fünfzehn Meter über ihren Köpfen, und Warstein schätzte, daß die gegenüberliegende Wand mindestens dreimal so weit entfernt war. Das Dröhnen schwerer Maschinen war hier viel lauter, und es war so kalt, daß er seinen eigenen Atem sehen konnte.
Berger und die anderen hockten in einem Kreis vor ihnen auf dem Boden. Die Männer hatten sich bei den Händen ergriffen und schienen sich in einer Art Trance zu befinden, denn sie hatten die Augen geschlossen, und auf allen Gesichtern lag der gleiche, starre Ausdruck höchster Konzentration. Trotz der Kälte saßen einige mit nackten Oberkörpern da. Warstein glaubte ein ganz leises an- und abschwellendes Klingen zu hören, einen Laut, der ihn an die Melodie erinnerte, die Angelika ein paarmal gesummt hatte. Aber er war nicht sicher, ob es wirklich da war oder ob ihm seine Nerven nur einen Streich spielten.
Angelika machte einen raschen Schritt an Franke vorbei und blieb dann so plötzlich stehen, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Ihr Blick war starr auf eine der reglos dasitzenden Gestalten gerichtet, von der Warstein vermutete, daß es ihr Mann war. Genau konnte er das nicht sagen. Warstein hatte es Angelika gegenüber nie zugegeben, aber er konnte sich nicht einmal an Bergers Gesicht erinnern.
»Was ... ist mit ihnen passiert?« flüsterte Angelika.
Warstein hätte ihr die Frage beantworten können. Er hatte all diese Männer schon einmal so dasitzen sehen, nicht so still, nicht in dieser unheimlichen Starre, aber auf die gleiche Art und Weise der Wirklichkeit entrückt. Aber er schwieg und überließ es Franke zu antworten.
»Nichts, Frau Berger«, sagte er. »Glauben Sie mir, wir haben ihnen nichts getan - ganz im Gegenteil. Sie sind in den letzten Tagen nach und nach hier eingetroffen, und wir haben weder versucht sie aufzuhalten, noch sie zu irgend etwas zu zwingen. Ich weiß nicht, was sie tun. Sie tun etwas, aber niemand kann sagen, was.«
»Sind das ... alle?« fragte Warstein. »Der ganze Bautrupp von damals?«
»Ja«, sagte Franke und schüttelte den Kopf. »Das heißt, alle die bisher angekommen sind. Soviel ich weiß, ist einer bei einem Unfall unterwegs ums Leben gekommen oder zumindest schwer verletzt worden. Auf zwei warten wir noch. Ich glaube nicht, daß sie es noch schaffen, so, wie es im Moment draußen aussieht. Aber wenn, würden sie zweifellos sofort hierherkommen und dasselbe tun - was immer es ist.«
Er sah Warstein fast flehend an, aber auch dies war eine der Antworten, die er ihm nicht geben konnte. Er wußte nicht, was diese Männer hier taten. Er hatte es auch damals nicht gewußt.
»Das ist unheimlich«, sagte Lohmann. »Als ... als ob sie eine Beschwörung vornehmen.«
Angelika fuhr bei diesen Worten sichtbar zusammen. Ihr Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, aber ihre Hände schlossen sich für eine Sekunde zu Fäusten. Warstein ergriff Franke am Arm und zog ihn ein paar Meter zur Seite, ehe er weitersprach. Vielleicht waren diese wenigen Augenblicke, die sie noch allein mit sich und ihrem Mann sein konnte, ein erbärmlicher Lohn für die Mühe, die sie auf sich genommen hatte, um hierher zu kommen, aber sie waren alles, was sie für sie tun konnten.
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen etwas sagt«, begann Warstein, »aber ich habe das schon einmal gesehen. Damals im Tunnel. Als die Männer verschwanden. Als ich sie gefunden habe, saßen sie genauso da. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Ich weiß auch nicht, was sie jetzt tun.«
»Sie scheinen sich in einer Art Trance zu befinden«, antwortete Franke. »Wir haben versucht sie aufzuwecken, aber es geht nicht. Wenn sie einen von ihnen gewaltsam aus dem Kreis lösen, beginnt er zu toben.« Er seufzte. »Ich hatte gehofft, daß Sie...« Wieder unterbrach er sich, schwieg einige Sekunden und wechselte dann mit sichtbarer Anstrengung das Thema.
»Kommen Sie, Warstein, ich zeige Ihnen den Rest. Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine Lösung.« Er bedachte Angelika mit einem abschätzenden, sehr langen Blick, aber er schien wohl zu dem Schluß zu kommen, daß er sie gefahrlos mit den Männern allein lassen konnte, denn kurz darauf begann er, den Ring der auf dem Boden sitzenden Männer zu umkreisen, und gestikulierte Warstein zu, ihm zu folgen. Lohmann schloß sich ihnen unaufgefordert an, während Rogler an seinem Platz neben der Tür stehenblieb. Vielleicht nicht einmal, weil Franke es ihm vorher befohlen hatte. Seiner angespannten Haltung nach zu schließen machte ihm das, was er hier sah, schlicht und einfach angst.
»Das ist phantastisch«, sagte Warstein, während sie auf einen mit mannsgroßen grauen Kunststofftafeln abgeteilten Bereich der Höhle zugingen. »Wie um alles in der Welt haben Sie es geschafft, diese Anlage zu bauen, ohne daß es jemand gemerkt hat?«
»Und warum?« fügte Lohmann hinzu.
»Das war gar nicht so schwer«, antwortete er. »Das meiste sind natürliche Hohlräume, die wir einfach miteinander verbunden haben. So massiv dieser Berg von außen auch wirken mag - innen drin sieht er aus wie ein Schweizer Käse.« Er lächelte flüchtig über das Wortspiel. »Es gibt Hunderte solcher Höhlen. Daß wir während der Arbeiten am Tunnel nicht darauf gestoßen sind, ist ein kleines Wunder. Und der Rest...« Er zuckte mit den Schultern. »Sie waren doch dabei. Sie wissen, wie groß die Baustelle war. Es war nicht besonders schwer, ein paar hundert Kubikmeter Fels mehr aus dem Berg zu holen, ohne daß es auffällt.«
»Deshalb die Verzögerung am Schluß?« fragte Lohmann.