»Ich verstehe das nicht!« Warstein sah, wie Hartmann sich herumdrehte und etwas zu jemandem in der Baracke hinter sich sagte. Augenblicke später drang seine Stimme erneut aus dem Lautsprecher.
»Ich kümmere mich darum. Diesmal entkommt uns der Bursche nicht, das verspreche ich Ihnen.«
»Sehen Sie zu, daß er verschwindet«, sagte Warstein noch einmal. »Und seien Sie vorsichtig. Wenn Franke etwas davon mitbekommt, ist der Teufel los.«
»In Ordnung«, antwortete Hartmann. »Und ... vielen Dank.«
Warstein schaltete das Gerät ab, ließ es in die Jackentasche zurückgleiten und winkte Hartmann mit der freien Hand zu, ehe er weiterging. Er vermied es ganz bewußt, noch einmal zu der einsamen Gestalt am Berg hinaufzusehen, sondern legte den Rest der Strecke schnell und mit gesenktem Blick zurück. Was natürlich nichts daran änderte, daß er die Blicke des Mannes noch deutlicher zu spüren glaubte. Es war ein unangenehmes Gefühl und ein sehr irritierendes, denn er vermochte es nicht wirklich einzuordnen.
Schließlich blieb er abermals stehen und zog das Funkgerät erneut aus der Tasche. Er stand jetzt unmittelbar unter dem aus gewaltigen Natursteinblöcken geformten Torbogen, so daß er den Mann nicht mehr sehen konnte. Aber er spürte, daß er noch da war. Und ihn weiter anstarrte.
»Hartmann?«
Diesmal verging mehr Zeit, bis die Stimme des Sicherheitsmannes aus dem Gerät drang. »Ja?«
»Falls Sie den Burschen kriegen«, sagte Warstein, »dann halten Sie ihn fest, bis ich zurück bin. Ich möchte mit ihm reden.«
»Ich schnappe ihn«, versprach Hartmann grimmig. »Und wenn ich ihn eigenhändig dort herunterschießen muß.«
»Gehen Sie kein Risiko ein«, erwiderte Warstein scharf. »Es reicht, wenn er verschwindet. Ich will hier keine wilde Verfolgungsjagd. Verscheuchen Sie ihn, und wenn er Ihnen dabei zufällig in die Hände fällt, um so besser. Aber denken Sie daran: wir sind hier nicht in Chicago.«
»Ganz, wie Sie wünschen, Herr Warstein«, antwortete Hartmann. Er klang jetzt ein wenig steif, und Warstein konnte sich gut vorstellen, wie sehr ihn sein plötzlicher scharfer Ton verwirrte. Natürlich wußte er, daß Hartmann nur einen Scherz gemacht hatte. Die beiden einzigen Schußwaffen, über die der Sicherheitsdienst verfügte, befanden sich in Frankes Büro unter Verschluß, und selbst wenn die Männer bewaffnet gewesen wären, hätten sie wohl kaum auf einen harmlosen Verrückten geschossen, der Spaß daran fand, Salamander zu spielen und an einer senkrechten Felswand hinaufzukrabbeln; noch dazu im Regen. Aber Warstein wußte auch, wie leicht eine solche Situation eskalieren konnte. Und ein Verletzter oder gar Toter war so ziemlich das letzte, was sie brauchten. Das Tunnelbauprojekt hatte bis jetzt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - einhellige Zustimmung in der Bevölkerung am Ort und bei der Presse gefunden. Aber nichts war so unberechenbar wie die öffentliche Meinung und nichts so hartnäckig wie ein Journalist, der eine Sensation witterte. Warstein bedauerte es schon fast, Hartmann überhaupt darum gebeten zu haben, den Mann festzuhalten.
Genau wußte er eigentlich selbst nicht, warum. Aber er dachte voller Unbehagen an die Art zurück, in der der Verrückte ihn angestarrt hatte. Irgend etwas war in seinem Blick gewesen, das ihm ... angst machte? Nein, das war das falsche Wort. Er verwirrte ihn, und er hatte seine Neugier geweckt.
Warstein selbst hatte den sonderbaren Alten sieben- oder achtmal gesehen, meist am anderen Ende des Camps, wenn er um den Bauzaun schlich oder versucht hatte, unbemerkt durch das Tor zu schlüpfen. Manchmal stand er stundenlang da und starrte das Lager an. Dagegen hatte niemand etwas, ganz im Gegenteil - im allgemeinen wurde er für einen Sonderling gehalten, einen Spinner vielleicht, aber harmlos. Die Geschichten über ihn waren mittlerweile zu einem festen Bestandteil der abendlichen Gespräche geworden.
Aber in letzter Zeit war er immer öfter innerhalb des Bauzaunes aufgetaucht, und dagegen hatten eine ganze Menge Leute etwas; Warstein eingeschlossen. Er mußte mit ihm reden, und sei es nur, um es zu tun, ehe Franke auf ihn aufmerksam wurde. Vielleicht reichte ja schon ein einfaches Gespräch, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Warstein verscheuchte den Gedanken an den Verrückten endgültig und ging weiter. Er befand sich nun endgültig im Inneren des Berges, und wie immer, wenn er hier war, überkam ihn ein sonderbares Gefühl, das er niemals wirklich hatte in Worte fassen können; etwas zwischen Ehrfurcht, Stolz und einem ganz sanften Unbehagen. Ehrfurcht vor der Größe dieses Berges, die man in seinem Inneren fast noch intensiver spürte als draußen, und Stolz auf das, was er und seine Kollegen in den letzten beiden Jahren vollbracht hatten. Im Vergleich zu diesem Granitgiganten waren sie weniger als Ameisen; allerhöchstem Mikroben, die an der Haut eines Riesen nagten. Und trotzdem hatten sie ihn schon fast zur Hälfte durchbohrt. Der Vortrieb näherte sich seinem Herzen. Noch ein paar hundert Meter, und sie hatten genau die Hälfte der Strecke geschafft. Und das Unbehagen... Nun, es war ein Gefühl vollkommen irrationaler Art, das aber dadurch nichts von seiner Intensität verlor. Es hatte auch keinen faßbaren Grund. Es war einfach das Gefühl, etwas zu tun, das möglicherweise kein Fehler, aber eben auch nicht ganz richtig war.
Warsteins Gedanken kehrten wieder zu seiner momentanen Situation zurück, während er mit raschen Schritten in den Tunnel eindrang. Die ersten zweihundert Meter des Stollens waren hell erleuchtet, und so pedantisch aufgeräumt und sauber, daß man buchstäblich vom Boden hätte essen können. Es herrschte ein reges Treiben und Hantieren. Eine in schreiendem Gelb lackierte Diesellok der Schweizer Kantonsbahn stand auf einem der beiden Gleise, aber sie war nicht mehr als eine Attrappe, aufgestellt für die Fotoapparate und Kameras der Journalisten, die immer wieder einmal hierherkamen und den Tunnel bewunderten. Sie war voll funktionsfähig und aus eigener Kraft hier heraufgefahren. Aber das Gleis, auf dem sie stand, endete keine zwanzig Meter hinter dem erleuchteten Teil des Tunnels. Von den beiden Schienensträngen war erst einer fertiggestellt, aber das reichte vollauf, um die Arbeiter und dann und wann schweres Gerät ans Ende des Vortriebs zu bringen. Der Abraum wurde auf einem Förderband herausgebracht und später auf Lastwagen verladen; immer noch die probateste Methode, wenn es darum ging, Steine aus einem Berg herauszutransportieren.
Warstein ging an der Diesellok vorbei, nahm sich einen Helm von einem Metallregal, das an der rechten Seite der Wand angebracht war, und ging weiter, und schon der übernächste Schritt führte ihn in eine völlig andere Welt, die nichts mehr mit der Hochglanzprospekt-Realität des ersten Abschnitts zu tun hatte.
Der Tunnel war hier größer, denn die Kunststoffverkleidungen, die die Wände auf den ersten zweihundert Metern kaschierten, waren hier noch nicht angebracht, so daß man die zum Teil mannsdicken Stahlbetonträger sehen konnte, die die Wände abfingen. Dazwischen und dahinter zog sich ein ganzes Aderwerk von Kabeln und Versorgungsleitungen dahin, manche so dick wie Warsteins Oberschenkel, andere dünn wie Feenhaar, so daß Dutzende zu einem einzigen, geflochtenen Zopf zusammengefaßt worden waren. Wenn man ganz genau hinsah, erkannte man ein ganz feines rotes Flimmern, das aus nichts weiter als Licht bestand: der Laser. Er funktionierte zwar immer noch nicht richtig - das konnte er nicht, denn dazu waren die äußeren Störungen einfach zu massiv, die die Bauarbeiten nun einmal mit sich brachten -, aber der Anblick erfüllte Warstein trotzdem mit einem gewissen Stolz. Die wenigen Male, wo das Gerät bisher wirklich frei von äußeren Einflüssen hatte arbeiten können, hatte es die Länge des Vortriebs bis auf einen tausendstel Millimeter genau angegeben. Selbst Franke hatte sich entsprechend beeindruckt gezeigt, und dazu hatte er allen Grund. Allein die Korrekturen, die sie bisher nicht hatten vornehmen müssen, weil sie Warsteins Laser hatten, hatten der Tunnelbaugesellschaft vermutlich Millionen erspart - und ihnen so ganz nebenbei zu etwas verholfen, was vielleicht noch wichtiger war: sie hinkten nicht wie bei solchen Projekten eigentlich üblich um Monate hinter dem Zeitplan her, sondern waren ihm gute sieben Wochen voraus.