Выбрать главу

Das explodierende Gewehr hatte das halbe Gesicht und den Hals des jungen Soldaten zerfetzt. Er hatte die entsetzliche Wunde gesehen, die weißglühende Metallsplitter und explodierendes Schießpulver gerissen hatten.

Jetzt war sie verschwunden. Der Soldat war sehr bleich. Sein Atem ging flach, und er zitterte am ganzen Leib. Aber sein Gesicht war vollkommen unversehrt! »Das ... das ist doch ... das ist doch nicht möglich!« keuchte der Major. Er wollte sich neben dem Verletzten auf die Knie sinken lassen, fuhr dann aber mit einem Ruck zu dem schwarzgekleideten Fremden herum, der sich ebenfalls erhoben hatte und ihn mit einem sanften Lächeln ansah.

»Wie haben Sie das gemacht?!« keuchte er. »Wer ... was sind Sie?«

»Ich habe nichts getan«, behauptete der Fremde. »Es war nicht nötig, etwas zu tun.«

»Reden Sie keinen Unsinn!« sagte der Major. Auch seine Hände begannen zu zittern. Er war kein Mann, der leicht aus der Ruhe zu bringen gewesen wäre, aber was er sah - was er mit eigenen Augen sah! -, war einfach unmöglich! »Der Mann war tot!«

»So etwas wie Tod gibt es nicht, Bruder«, behauptete der Fremde. »Das Leben ist unzerstörbar. Spürst du es nicht? Es ist überall. In jedem Grashalm, jedem Stein, in der Luft, die du atmest, und in den Gedanken, die du denkst.« Er breitete die Hände aus und trat einen Schritt auf den Major zu, fast als wolle er ihn umarmen, aber der Soldat prallte mit einem Schrei zurück. Sofort waren zwei seiner Männer bei ihm und nahmen mit angeschlagenen Waffen rechts und links des Fremden Aufstellung.

Der junge Mann lächelte. Der Anblick der Waffen, die sich drohend auf ihn richteten, schien ihn nicht zu ängstigen, wohl aber irgendwie traurig zu stimmen. »Tut das nicht«, sagte er sanft. »Niemand sollte eine Waffe auf seinen Bruder richten. Wißt ihr denn nicht, daß Haß nur Haß gebären kann?«

»Halten Sie den Mund!« schnappte der Major. Seine Gedanken wirbelten haltlos durcheinander. Er begriff nicht, was er da sah, und er wollte es auch gar nicht. Hastig winkte er zwei Soldaten herbei und deutete auf den Verletzten, der sich neben ihm mühsam in eine halb sitzende Stellung hochgearbeitet hatte. Er wankte noch immer vor Schwäche, und auf seinem Gesicht lag ein verwirrter Ausdruck, wie auf dem eines Menschen, der unversehens aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden war und im ersten Moment Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden.

»Kümmern Sie sich um ihn!« befahl er.

Die beiden Männer schulterten ihre Waffen - und starrten ebenso fassungslos auf ihren Kameraden. Sie alle hatten gesehen, was ihm passiert war. Das Gras, auf dem er gelegen hatte, und seine Uniform waren noch immer dunkel und feucht von Blut. Der Major gestattete sich nicht, die rechte Hand des Mannes anzublicken. Die Explosion hatte sie regelrecht in Fetzen gerissen, aber er wußte, daß auch sie nun wieder vollkommen unversehrt war.

Mit einem Ruck drehte er sich um und wandte sich an die beiden Soldaten, die den Fremden bewachten. »Und Sie passen auf diesen Verrückten auf. Sie haften mir dafür, daß er nicht verschwindet!«

»Warum fürchtet ihr mich?« fragte der Fremde. Seine Stimme klang traurig. »Es gibt keinen Grund dafür.«

Der Offizier antwortete nicht, aber er trat einen Schritt näher und sah den jungen Mann zum ersten Mal wirklich aufmerksam an. Sein Gesicht war ... sonderbar. Es gelang dem Major nicht, sein Alter zu schätzen. Auf den ersten Blick wirkte er jung, ein halbes Kind fast noch, aber zugleich schien da etwas Zeitloses in seinen Zügen zu sein. Das Unheimlichste an ihm waren seine Augen. Es waren die Augen eines jungen Mannes, aber es waren auch Augen, die Dinge gesehen hatten, die sich der Major nicht einmal vorstellen konnte. Es hätten die Augen eines Tausendjährigen sein können, nicht die eines Kindes. Was der Soldat darin las, das war ein Wissen und eine Weisheit, die ihn schaudern ließ.

Dann entdeckte er noch etwas. Er hatte der Kleidung des Fremden bisher kaum Beachtung geschenkt. Dieser trug schwarze Jeans, gleichfarbige Turnschuhe und einen ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover - über dessen Brust sich eine schräg verlaufende Reihe runder Löcher zog.

Einschußlöcher.

Der Major hatte so etwas zu oft gesehen, um auch nur eine Sekunde lang nicht mit absoluter Gewißheit zu wissen, was er da erblickte. Jemand hatte auf diesen Mann geschossen. Aus allernächster Nähe. Der schwarze Wollstoff war nicht nur verkohlt, sondern auch über und über mit Blut verschmiert. Aber die Haut, die er durch die runden Einschußlöcher hindurch sehen konnte, war vollkommen unversehrt.

»Wer sind Sie?« fragte er leise. Er empfand nicht einmal wirklichen Schrecken. Ein Gefühl der Betäubung hatte sich in ihm breitgemacht, das alle anderen Empfindungen überlagerte. Er war sehr dankbar dafür.

»Ich bin du«, antwortete der Junge. »Wir alle sind eins, Bruder. Ich bin, was du in mir siehst. Es liegt bei dir, was es sein wird.« Die Worte berührten den Major. Er versuchte vergeblich sich einzureden, daß er einfach einem Verrückten gegenüberstand, der Unsinn faselte. Plötzlich hatte er Angst vor diesem schwarzgekleideten, unscheinbaren Fremden. Für den Bruchteil einer Sekunde, einen winzigen, aber entsetzlichen Moment, schien sich sein Gesicht auf eine nicht in Worte zu fassende, aber grauenerregende Weise zu verändern. Plötzlich stand er keinem Wundertäter mit heilenden Händen mehr gegenüber, sondern dem Satan.

Der Moment verging so schnell, wie er gekommen war, aber der Major prallte trotzdem mit einem keuchenden Schrei zurück und riß instinktiv die Hände vor das Gesicht.

Die beiden Soldaten, die den Fremden bewachten, hoben automatisch wieder ihre Waffen. Sie wirkten erschrocken, aber der verstörte Ausdruck in ihren Augen galt nicht dem Mann, den sie bewachen sollten, sondern ihrem Kommandanten.

»Schon gut«, sagte der Major rasch. »Es ist alles in Ordnung. Mein Fehler.« Er atmete hörbar ein und wiederholte seine befehlende Geste. »Passen Sie auf ihn auf. Ich bin ... gleich zurück.« Es war den beiden Soldaten anzusehen, wie wenig ihnen dieser Befehl gefiel. Trotzdem rückten sie näher an den Fremden heran. Einer von ihnen hob die Hand, um den Schwarzgekleideten am Arm zu ergreifen, brach die Bewegung aber dann plötzlich wieder ab. Erneut erschien ein verwirrter Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Major sagte nichts dazu, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und entfernte sich ein paar Schritte. Es gab nichts, wohin er gehen oder was er tun konnte. Er wußte, wie wichtig es gerade in diesem Moment gewesen wäre, Stärke zu zeigen. Jede Truppe war immer nur so stark wie ihr Kommandant, das war ein ehernes Gesetz, das so lange galt, wie es Soldaten gab, und daran glaubte der Major. Aber was er hier sah und erlebte, das widersprach allem, was er jemals gelernt und woran er jemals geglaubt hatte. Die Welt schien in Stücke zu brechen. Ganz gleich, welche Auswirkung es auf die Moral seiner Männer haben mochte, er brauchte ein paar Augenblicke, um wieder zu sich selbst zu finden.

So ging er zum Ufer hinab und blieb erst stehen, als er die Kälte des Wassers durch die schweren Schuhe hindurch spürte. Sein Blick suchte die Lichter im Süden, winzige bunte Sterne, die reglos über dem Wasser schwebten. Er fragte sich, ob die Bergungsarbeiten noch immer im Gange waren, trotz der Lichter am Himmel und allem anderen, oder ob der Wahnsinn, der ganz Ascona befallen zu haben schien, auch dort drüben tobte. Er...

Etwas geschah.

Der Major konnte nicht sagen, was, aber er spürte es ganz deutlich. Es war, als wäre ein Ruck durch die Wirklichkeit gegangen, als hätte sich die ganze Welt ein winziges, aber meßbares Stückchen seitwärts von der Realität wegbewegt. Das Flackern am Himmel änderte seinen Rhythmus, und plötzlich lag der See nicht mehr still. Winzige Wellen kräuselten seine Oberfläche, und ein kalter, böiger Wind schlug dem Offizier ins Gesicht. Verblüfft senkte er den Blick und riß ungläubig die Augen auf, als er sah, wie das Wasser vom Ufer davonzukriechen begann.

Es war nicht das normale Hin und Her der Wellen, die manchmal einige Zentimeter des Sees preisgaben, manchmal ein Stück des Uferstreifens verschlangen. Das Wasser zog sich vom Ufer zurück, lautlos und so schnell, als würde der Wasserspiegel des Sees mit phantastischer Geschwindigkeit zu sinken beginnen!