Der Motor des Polizeibootes begann zu dröhnen. Das Schiff war dem Ufer so nahegekommen, wie es sein Kapitän wagte, ohne Gefahr zu laufen, es auf Grund zu setzen. Jetzt schwenkte es langsam herum, richtete den Bug auf das offene Wasser aus und begann gleichzeitig schneller zu werden.
Es war nicht schnell genug. Der Wasserspiegel des Lago Maggiore sank immer schneller und schneller. Das Schiff war noch keine zwanzig Meter vom Ufer entfernt, als sein eiserner Kiel scharrend auf Grund lief. Ein Knirschen und Poltern ertönte, in das sich ein Chor erschrockener Rufe von den Männern an Deck mischte. Das Schiff machte noch einmal einen letzten, harten Ruck, kam dann vollends zum Stehen und begann sich zur Seite zu neigen, als der Wasserspiegel nicht mehr hoch genug war, um es im Gleichgewicht zu halten. Aus den Entsetzensschreien wurden Schmerzensschreie, als das Boot langsam zur Seite kippte und die Männer hilflos von Deck geschleudert wurden. Das Schiff stürzte schließlich mit einem ungeheuren Krachen und Bersten auf die Seite, wobei es mehrere der hilflos daliegenden Soldaten einfach unter sich begrub. Die Überlebenden versuchten hastig davonzulaufen, aber nicht alle waren noch in der Lage dazu.
Der Major beobachtete die Katastrophe vollkommen ausdruckslos. Er empfand nicht einmal Schrecken. Was er sah, das war einfach zu bizarr, als daß sein an Logik gewohntes Denkvermögen es verarbeiten konnte. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß er diese Dinge wirklich sah und nicht nur einen Fiebertraum durchlebte, aber er weigerte sich einfach, eine Erklärung dafür zu finden oder das Bild als wahr zu akzeptieren.
Der Wasserspiegel sank noch immer. Da das Ufer an dieser Stelle ziemlich steil abfiel, schien sich das Tempo zu verlangsamen. Trotzdem verschwand das Wasser mit phantastischer Geschwindigkeit, als lösten sich in jeder Sekunde Millionen und Abermillionen Kubikmeter einfach in nichts auf.
Langsam wandte der Major den Kopf und sah nach rechts, dorthin, wo die Prozession der Druiden im See verschwunden war. Das Wasser war mittlerweile weit genug gefallen, daß er sie sehen konnte. Sie bewegten sich weiter auf die Mitte des Sees zu, nebeneinander und mit den gleichen, zeremoniellen Bewegungen, mit denen sie die Böschung heruntergekommen und ins Wasser hineingegangen waren. Nach allem Unmöglichen, das der Major in den letzten Augenblicken gesehen hatte, hatte er diesen Anblick beinahe erwartet. Jemand rief nach ihm. Widerwillig löste er seinen Blick von der Reihe der Druiden und drehte sich wieder zu seinen Männern um. Sie würden eine Erklärung von ihm erwarten, die er ihnen nicht geben konnte.
Aber deswegen hatte man nicht nach ihm gerufen. Ein Teil der Soldaten blickte ebenso fassungslos und entsetzt wie er auf das zurückweichende Wasser hinaus, aber der weitaus größere Teil von ihnen starrte in die entgegengesetzte Richtung, hinauf zum Park und der dahinterliegenden Stadt.
Der Major ahnte, was er erblicken würde. Die Schatten zwischen den Bäumen waren nicht mehr leer. Dutzende von Männern, Frauen, aber auch Kindern und Alten waren zwischen ihnen erschienen, und es wurden mit jeder Sekunde mehr. Noch wagten sie es nicht, die Böschung herunterzukommen und sich den Soldaten zu nähern, die sich zu einer engeren Formation zusammengezogen und ihre Waffen in Anschlag gebracht hatten. Der Offizier wußte, daß dieser Zustand nur noch Augenblicke dauern würde. Das dort oben waren keine vernünftig denkenden Menschen mehr. Es war ein Mob, der seinen eigenen Gesetzen gehorchte; Gesetze, die der Major nur zu gut kannte. Sein schlimmster Alptraum wurde wahr. Man hatte ihn hierhergeschickt, um diese Menschen zu beschützen, aber nun würde er sie töten müssen. Die Spinne begann aus ihrer Höhle zu kriechen. Weder der Offizier noch einer seiner Männer bemerkten es, aber ihr Gift wirkte bereits. Plötzlich wollte er, daß es geschah. Von allen Schreckensbildern, die sein Unterbewußtsein für ihn bereit hielt, war dies das schlimmste. Trotzdem spürte er plötzlich tief in sich den unbezwingbaren Wunsch, seinen Männern zu befehlen, das Feuer auf die wehrlose Menge zu eröffnen. Er war Soldat. Er hatte sein Leben lang gelernt zu töten.
Und nun war der Moment gekommen, dieses Wissen anzuwenden. Endlich. »Achtung!« befahl er. Seine Stimme war wieder ganz ruhig und so sicher und befehlsgewohnt wie immer. »Legt an!«
Die Männer hoben die Waffen, und die Bewegung fand ein optisches Echo in der Menschenmenge über ihnen. Für einen Moment stockte ihr Vormarsch, verkehrte sich sogar für eine Sekunde ins Gegenteil. Aber der Druck der nachdrängenden Masse war zu groß.
»Nein!«
Die beiden Soldaten, die den jungen Mann bewachten, stürzten zu Boden, als dieser sich mit erstaunlicher Kraft losriß und schreiend die Böschung hinaufzulaufen begann. Drei, vier Männer zugleich legten auf ihn an.
»Nein!« brüllte der Junge. »Tut es nicht! Ich flehe euch an! Ihr dürft das nicht tun! Kämpft nicht gegeneinander!«
Auf halber Strecke zwischen der Menschenmenge im Park und den Soldaten blieb er stehen und riß die Arme in die Höhe. »Besinnt euch!« schrie er. »Ihr alle seid Kinder der gleichen Schöpfung!«
Von allen Wundern, die der Major und seine Männer in der letzten Stunde erlebt hatten, war dies vielleicht das größte. Der Junge stand einfach da, eine zerbrechliche schwarze Gestalt in zerrissenen Kleidern, eine einzelne Stimme, die eine Sturmflut von Gewalt aufzuhalten versuchte, und für einige wenige Sekunden schien es ihr tatsächlich zu gelingen. Der Major spürte, wie sich die schwarze Kralle des Hasses aus seinen Gedanken zurückzuziehen begann, wie sich anstelle des wilden Verlangens zu töten Verwirrung und Schrecken in ihm breitmachten und die von kaltem Entsetzen begleitete Frage, was er hier eigentlich tat, was sie alle im Begriff waren zu tun. Auch einige seiner Männer senkten ihre Waffen. Auf ihren Gesichtern breitete sich der gleiche Schrecken und die gleiche Fassungslosigkeit aus, die auch ihr Kommandant verspürte. Es liegt bei dir, was sein wird.
Aber die Erkenntnis, was diese Worte wirklich bedeuteten, kam zu spät. Der junge Mann blieb mit hoch erhobenen Armen stehen und sah auf die Soldaten und ihren Kommandanten herab, dann drehte er sich herum, vielleicht um seine Worte an die Menge über sich zu wiederholen, vielleicht auch einfach nur erleichtert, die Katastrophe im letzten Moment doch noch verhindert zu haben.
Jemand warf einen Stein nach ihm. Er verfehlte ihn, aber einer der Soldaten unten am Ufer verlor die Nerven und drückte ab. Der Schuß traf einen der vordersten Männer und riß ihn von den Füßen.
Der Major schloß die Augen, als er hörte, wie die Menschenmenge mit einem einzigen, hundertstimmigen Aufschrei losstürmte. Sein schlimmster Alptraum war nun doch Wirklichkeit geworden...
Zu Warsteins Überraschung nahm sich Franke die Zeit, ihnen auch den Rest der unterirdischen Anlage zu zeigen. Trotz allem gelang es ihm nicht ganz, den Stolz zu verhehlen, mit dem sie ihn erfüllte. Das Labor - denn um nichts anderes handelte es sich - bestand aus mehr als einem Dutzend unterschiedlich großer Räume, in denen so ziemlich alles aufgebaut war, was es an moderner und vor allem teurer Technik zu geben schien; und eine ganze Menge, von dem Warstein noch vor einer Stunde im Brustton der Überzeugung behauptet hätte, daß es nicht existierte. Warstein war kein Physiker, und Theorien über Schwarze Löcher und kosmische Energiequellen gehörten nicht einmal am Rande zu seinem Fachgebiet, aber er begann trotzdem rasch zu begreifen, wie weit Franke mit seinen Forschungen in den letzten drei Jahren gekommen war. Selbst wenn sich am Ende erweisen sollte, daß es in diesem Berg kein Schwarzes Loch gab, so hatten er und seine Mitarbeiter doch Erkenntnisse gewonnen, die den unvorstellbaren Aufwand, den die Errichtung dieses Labors bedeutet hatte, mehr als rechtfertigten. Falls es dann noch jemanden gab, der mit diesen Erkenntnissen etwas anfangen konnte.