»Noch einen Meter zurück«, sagte er, nachdem er eine Weile konzentriert abwechselnd auf das LCD-Display und die Wand zur Linken gestarrt hatte. Warstein bemerkte erst jetzt die leuchtendroten Markierungen, die an der Felswand angebracht worden waren.
Wieder bewegte sich der Zug; diesmal nur um Zentimeter, wie es schien. Aber Franke war noch immer nicht zufrieden. Auf seinen Befehl hin rollte die Lok abermals vor und dann noch einmal ein winziges Stück zurück. »Was um alles in der Welt treiben die da?« murmelte Lohmann.
Warstein antwortete nicht. Nicht nur, weil er es nicht wußte. Was er sah, gefiel ihm nicht. Der Zug und seine Ladung machten ihm angst. An dem metallenen Block war irgend etwas Düsteres und zugleich Gewalttätiges.
Franke klappte seinen Rechner zu und ließ ihn wieder in der Tasche verschwinden. »Noch nicht optimal«, sagte er. »Aber den Rest machen wir später.« Er seufzte tief, bedachte die Lok und ihre Last mit einem Blick, in dem sich Zufriedenheit mit einer Sorge mischte, die Warsteins Furcht noch einmal neue Nahrung gab, und zuckte dann mit den Schultern, als hätte er sich in Gedanken eine Frage gestellt und sie gleich selbst beantwortet.
»Was ist das?« fragte Lohmann noch einmal.
»Das, wonach Sie mich vorhin gefragt haben, Herr Lohmann«, antwortete Franke. »Unsere letzte Möglichkeit. Ihre Notbremse.«
»Wie ... meinen Sie das?« fragte Lohmann nervös. Er wurde blaß. »Einen Moment«, stammelte er. »Das ... das ist nicht das, wofür ich es halte, oder?«
»Ich weiß nicht, wofür Sie es halten«, antwortete Franke. Seine Stimme klang ehrlich belustigt. »Es ist ein thermonuklearer Sprengsatz.«
»Wie?!« keuchte Lohmann. Für die Dauer eines Herzschlages starrte er Franke aus aufgerissenen Augen an, dann schrie er auf, stolperte zurück und prallte so heftig gegen die Tunnelwand, daß er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. »Sind Sie übergeschnappt?!« kreischte er. »Sie ... Sie müssen völlig wahnsinnig sein! Das ist nicht Ihr Ernst! Das ... das können Sie nicht wirklich wollen! Um Gottes willen - nein!«
Auch Warstein war instinktiv einen Schritt zurückgewichen, obwohl er nicht einmal sehr überrascht war. Nicht wirklich. Er hatte geahnt, was Franke unter einer letzten Möglichkeit verstand.
Angelika schien gar nicht zu begreifen, wovon sie sprachen. Verständnislos blickte sie zuerst Lohmann, dann Franke und schließlich Warstein an. »Was ist los?« fragte sie. »Was ist das für ein Ding?«
»Eine Atombombe«, antwortete Warstein ruhig, und auch aus Angelikas Gesicht wich schlagartig das Blut.
»Präzise ausgedrückt, eine Wasserstoffbombe«, berichtigte ihn Franke, »mit einer geschätzten Wirkung von vierundzwanzig Megatonnen.« Er lachte vollkommen humorlos und zuckte mit den Schultern. »Genau konnte man mir das nicht sagen. Es ist ziemlich lange her, daß man Bomben dieser Größe getestet hat, und die Berechnungen waren nicht immer ganz richtig. Aber es ist das Größte, was Sie hatten.« Er sah Warstein an und schien auf irgendeine Reaktion zu warten. Als sie nicht kam, wandte er sich zu Lohmann um. »Stellen Sie sich nicht so an, Sie Dummkopf«, sagte er verächtlich. »Sie ist vollkommen ungefährlich, solange niemand auf den falschen Knopf drückt.«
»Sie sind ja wahnsinnig!« wimmerte Lohmann. Er war noch weiter zurückgewichen und hatte die Hände schützend vor das Gesicht gehoben, als rechne er tatsächlich jeden Moment damit, daß die Bombe explodierte.
»Aber das ... das dürfen Sie nicht tun«, sagte nun auch Angelika. »All diese Menschen dort draußen. Die Städte und -«
Franke unterbrach sie mit einem sanften Kopfschütteln. »Niemandem wird etwas geschehen«, behauptete er. »Vielleicht wird Ascona zerstört werden, aber nicht einmal das ist sicher. Wir sind hier unter einem Berg, vergessen Sie das nicht.«
»Aber es ist eine Atombombe!« protestierte Angelika.
»Und zwar eine sehr große, ja«, bestätigte Franke. »Trotzdem. Die meisten Menschen überschätzen die Wirkung von Atomwaffen. Ihre Sprengkraft ist gar nicht so gewaltig. Sicher, es ist eine gewaltige Bombe, aber selbst die größte Atomwaffe der Welt könnte diesen Berg nicht zum Einsturz bringen.« Er sah Warstein an. »Bestätigen Sie es ihr, bitte.«
Wäre Warstein nicht so entsetzt gewesen, hätte er wahrscheinlich lauthals losgelacht. Vermutlich hatte Franke sogar recht, was die Sprengkraft der Bombe anging - über ihnen befanden sich zwei Kilometer massiver Fels, den selbst diese Waffe nicht vollständig zu zerstören imstande sein würde. Trotzdem würde die Explosion die halbe Schweiz erschüttern, abgesehen von Kleinigkeiten wie Strahlung, Erdbeben und was sonst noch folgen mochte. Lohmann hatte recht: Franke war wahnsinnig.
»Sie sind hier der Spezialist für alles Militärische«, sagte er.
Für eine Sekunde blitzte es zornig in Frankes Augen auf. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt.
»Es gibt wirklich keinen Grund, in Panik zu geraten«, sagte er. »Niemand hat vor, diese Bombe zu zünden. Jedenfalls noch nicht.«
»Warum ist sie dann hier?« kreischte Lohmann. Er hatte vollkommen die Beherrschung verloren. »Sie lügen! Sie hatten es von Anfang an vor!«
»Unsinn!« sagte Franke scharf. »Ich wäre bestimmt nicht hier, wenn ich das gewollt hätte.« Er wandte sich mit einer zornigen Bewegung an Warstein. »Bringen Sie diesen Narren zur Räson, Warstein, ehe ich es tue!«
Es fiel Warstein sehr schwer, seinen Blick von dem metallenen Würfel auf der Ladefläche des Zuges zu lösen und sich zu Lohmann herumzudrehen. Seine Stimme wollte ihm den Dienst verweigern, und es gelang ihm kaum, seine Gedanken wenigstens wieder so weit in geordnete Bahnen zu zwingen, daß er in der Lage war, überhaupt zu sprechen. Trotzdem sagte er: »Er hat recht, Lohmann. Es wird nichts passieren. Schließlich ist er kein Selbstmörder.«
Lohmann hörte seine Worte gar nicht. Er starrte die Bombe an. In seinen Augen flackerte nackte Panik.
»Aber in einem Punkt schließe ich mich Lohmann an«, fuhr Warstein, nun wieder an Franke gewandt, fort: »Warum haben Sie sie hergebracht?«
»Weil es vielleicht die einzige Möglichkeit ist, den Schacht zu schließen«, antwortete Franke. Er deutete zur Tunneldecke. »Wir befinden uns genau darunter. Präzise in seiner Mitte. Vielleicht reicht die Explosion aus, ihn zu zerstören.«
»Blödsinn!« antwortete Warstein.
»Haben Sie eine bessere Idee?«
»Das meine ich nicht«, sagte Warstein. »Und Sie wissen das verdammt genau! Dieses Loch ist heute morgen entstanden, nicht wahr? Erzählen Sie mir nicht, daß Sie die Bombe erst jetzt hierhergebracht haben. Wasserstoffbomben liegen nicht in einem Versandhausregal herum und warten darauf, daß sie jemand bestellt! Wie lange ist das Ding schon hier? Und warum?«
Franke antwortete nicht. Er sah weg.
»Sie ist vor einer Woche hergebracht worden, nicht wahr?« fuhr Warstein ganz leise fort. Plötzlich war alles ganz klar. So klar, daß er gar nicht verstand, wie er es auch nur eine Sekunde lang hatte übersehen können. Er deutete auf den ICE. »Als Sie das da entdeckt haben. Oder vielleicht schon früher, als der erste Zwischenfall bekannt wurde?« Seine Stimme begann zu zittern, und einen Moment später auch seine Hände. Dann sein ganzer Körper. »Sie ... Sie verdammter Verbrecher«, sagte er. »Sie haben es gewußt. Sie haben geahnt, was passieren würde. Sie haben es die ganze Zeit über gewußt!«
»Nein!« antwortete Franke. Er sah ihn noch immer nicht an, sondern starrte ins Leere. »Es war ... nur eine Sicherheitsmaßnahme. Für alle Fälle. Ich war dagegen, aber sie ... sie haben darauf bestanden.«
Warstein lachte schrill auf. »Was hatten Sie vor? Es in die Luft zu sprengen, falls Ihnen Ihr kleines Spielzeug entgleiten sollte?«
»Es ist theoretisch möglich!« protestierte Franke. »Wenn es wirklich ein winziges Schwarzes Loch ist, vielleicht in der Größe eines Atoms, dann reicht es, es mit Energie zu füttern, und es wird explodieren.«