»Ja, oder weiterwachsen und diesen ganzen verdammten Planeten verschlingen!« brüllte Warstein. »Wollen Sie das?!«
Franke hob mit einem Ruck den Kopf und sah ihn herausfordernd an. »Was wollen Sie?« fragte er trotzig. »So, wie die Dinge liegen, ist diese Bombe vielleicht unsere letzte Rettung. Vielleicht können wir das Loch schließen!«
»Und wenn nicht, fliegt uns eben der ganze Planet um die Ohren, wie?« höhnte Warstein.
»Das macht dann auch nichts mehr«, sagte Franke. »Drei Wochen mehr oder weniger - wo ist der Unterschied? Und, wie gesagt: es war nicht meine Idee!«
»Nicht Ihre Idee?« Warstein sprang vor und ergriff Franke so grob bei den Rockaufschlägen, daß der kleinere Mann von den Füßen gerissen wurde und mit den Armen zu rudern begann, um sein Gleichgewicht zu halten. »Ich werde Ihnen zeigen, was ich von Ihren beschissenen Ideen hal...« Jemand schrie. Irgendwo begann ein rotes Licht zu flackern, und dann heulte eine Sirene schrill und mißtönend auf. Plötzlich war der Tunnel voller polternder Schritte, Rufe und laufender Gestalten. Warstein ließ Franke los, der zurückstolperte und nur mit Mühe und Not nicht stürzte.
Aber die plötzliche Aufregung galt nicht ihm. Die Soldaten stürmten nicht heran, um ihn von Franke wegzureißen. Die Tür der Diesellok wurde aufgerissen, zwei Männer stürzten heraus und rasten wie von Furien gehetzt davon, und auch von der Ladefläche des Zuges sprangen Gestalten herab. Das Heulen der Sirene hielt an. Auf der Oberseite des grünen Metallblockes flackerte eine rote Warnlampe.
Warstein wußte, was all dies bedeutete. Aber er weigerte sich einfach, es zu glauben.
»Sie explodiert!« Die Stimme des Mannes hinter dem Schaltpult hinten auf dem Zug überschlug sich fast. »Der Zünder läuft! GROSSER GOTT, SIE EXPLODIERT GLEICH!«
»Nein!« stammelte Franke. »Das kann nicht sein! Das ist ... das ist völlig ausgeschlossen!«
Das Heulen der Sirene und die immer schriller werdende Stimme des einsamen Technikers hinter dem Pult bewiesen das Gegenteil. Der Mann hämmerte wie besessen auf seinen Kontrollen herum. »Sie explodiert!« schrie er immer wieder. »Der Countdown läuft! Noch drei Minuten!«
Warstein taumelte hilflos zurück. Weg! Das war alles, was er denken konnte. Er mußte hier weg. In drei Minuten würde die Welt untergehen. Er mußte raus hier, raus aus diesem Tunnel, weg von diesem Berg, diesem Land...
Rings um ihn herum begannen die kunststoffverkleideten Wände des Tunnels zu verblassen. Er sah Bäume, einen blauen Himmel und sanft ansteigende Hügel, an deren Hänge sich kleine weiße Häuser schmiegten, ein Tal des Friedens, sein persönliches Paradies, das er sich manchmal in seinen geheimsten Träumen ausgemalt hatte und in das er fliehen würde, fliehen konnte, um dem Weltuntergang zu entgehen, nur kraft seiner Wünsche, kraft seiner Phantasie und seines Willens, die jetzt und hier, an diesem magischen Ort und in diesem magischen Moment, stärker waren als die Wirklichkeit.
»Nein!«
Die Realität materialisierte sich wieder. Das Heulen der Sirene hielt noch immer an, und das Flackern der Warnlampe war schneller geworden, hektischer, drohender. Auch die Soldaten hatten sich umgewandt und rannten in sinnloser Panik davon. Franke stand noch immer da und starrte den Zug aus ungläubig aufgerissenen Augen an, gelähmt vor Entsetzen.
»Noch zwei Minuten!« schrie der Techniker. »O Gott, ich kann es nicht aufhalten! Ich kann nichts tun!«
Warsteins Blick suchte Lohmann. Der Journalist hatte sich wimmernd am Boden zusammengekauert und die Hände über den Kopf geschlagen. Er zitterte. »Sie explodiert!« kreischte er. »Ich wußte es! Ich habe es euch gesagt! Sie muß explodieren!«
Warstein war mit einem Satz bei ihm, riß ihn in die Höhe und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht. Lohmann heulte vor Schmerz, als sein Hinterkopf unsanft gegen die Tunnelwand krachte, aber er hörte trotzdem nicht auf zu stammeln.
»Sie wird explodieren! Ich wußte es! Wir werden alle sterben!«
»Hören Sie auf, Lohmann!« brüllte Warstein. »Hören Sie endlich auf! Sie explodiert nur, weil Sie es so wollen!«
»Wir werden alle sterben!« kreischte Lohmann. Er hörte Warsteins Worte nicht. Und selbst wenn er sie gehört hätte, wäre er gar nicht mehr in der Lage gewesen, irgend etwas zu tun.
Warstein schlug zu. Er legte alle Kraft in diesen einzigen Hieb. Trotzdem war es nicht sein Faustschlag, der Lohmann das Bewußtsein raubte. Seine Faust traf das Kinn des Journalisten und ließ seine Haut aufplatzen, ohne ihm ernsthaften Schaden zuzufügen, aber Lohmanns Kopf kollidierte ein zweites Mal und noch heftiger mit der Tunnelwand. Es gab einen hörbaren, knirschenden Laut, Lohmann verdrehte die Augen und sackte reglos zu Boden.
Das Heulen der Sirene brach ab. Nur einen Moment später erlosch auch das flackernde rote Licht der Warnlampe. Später, als Franke mit dem Techniker sprach und Warstein hinzukam, erfuhr er, daß der elektronische Zünder noch siebenundachtzig Sekunden davon entfernt gewesen war, die Bombe zu zünden.
Der Wasserspiegel des Sees fiel unaufhaltsam weiter. Es gab nichts, wohin das Wasser hätte abfließen können. Da war kein Strudel, keine plötzliche Strömung, kein neu entstandener Abfluß; so wie beim Auszug der Israeliten das Wasser des Roten Meeres vor ihnen zurückgewichen war, so teilten sich die Fluten des Lago Maggiore vor dem Zug der Druiden, zogen sie sich in eine Richtung zurück, die jenseits der bekannten Dimensionen dieser Welt lag, auf einer anderen der zahllosen Ebenen der Wirklichkeit.
Das Phänomen blieb auf den nördlichen Teil des Sees beschränkt. Die südliche Hälfte, in der noch immer Dutzende von Schiffen nach Überlebenden des abgestürzten Flugzeuges und nach Trümmerstücken suchten, blieb ruhig.
Niemand dort bemerkte etwas von dem phantastischen Vorgang. Die Lichter am Himmel, der Feuerschein, der sich an vielen Stellen Asconas zugleich auszubreiten begann, das Chaos und die Explosionen, nichts von alledem vermochte den Schleier zu durchdringen, der sich über die Sinne der Menschen hier gelegt hatte. Zwar verweilte manchmal ein Blick auf der Silhouette der brennenden Stadt, richtete sich die Aufmerksamkeit eines zufälligen Beobachters für Sekunden auf den schwarzen Abgrund, der inmitten des Sees klaffte, aber es war, als vermochten es die Bilder und Eindrücke einfach nicht, wirklich ins Bewußtsein der Menschen zu dringen. Die Such- und Bergungsarbeiten wurden fortgeführt. Niemand unternahm auch nur den Versuch, die unsichtbare Grenze zu überschreiten, die den See teilte.
Und niemand bemerkte den Zug buntgekleideter, gebrechlicher Gestalten, der sich tiefer und tiefer in die Mondlandschaft aus grauem Schlamm hineinbewegte. Die Männer bewegten sich vollkommen lautlos und auf eine Weise, die jedem Beobachter einen Schauer der Ehrfurcht über den Rücken hätte laufen lassen, hätte es einen Beobachter gegeben. Ihre Lippen bewegten sich, aber nicht der kleinste Laut kam darüber.
Die Prozession schritt nur langsam voran. Der See war hier sehr tief; an manchen Stellen mehr als dreihundert Meter, so daß sie zu großen, mühevollen Umwegen gezwungen wurden, um Spalten und jäh aufklaffende Abgründe zu umgehen, senkrechte Felswände und tückische Klippen. Manchmal half ihnen das Wasser, das noch immer lautlos und rasch vor ihnen zurückwich und ihnen dabei einen Weg zeigte, wo es keinen zu geben schien. Manchmal war es, als verändere sich der Weg vor ihnen. Eine Lücke klaffte auf, wo vor einem Augenblick noch eine unüberwindliche Felswand gewesen war, ein schmaler gewundener Pfad, wo eine fünfzig Meter tiefe Steilwand den Weg der Druiden zu versperren drohte, eine Felsenbrücke, wo gerade noch ein unüberwindlicher Abgrund gewesen zu sein schien.
Auch rings um die Inseln im Norden war der Wasserspiegel gefallen und hatte die flachen, kaum nennenswert aus dem Wasser reichenden Erhebungen zu steilen Felsnadeln gemacht, von deren Flanken schäumende Wasserfälle in die Tiefe stürzten und die wuchsen, je weiter das Wasser zurückwich.