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18

Die Stadt brannte. Aus einer Höhe von dreihundert Metern heraus betrachtet, bildeten die verschiedenen Brandherde ein fast symmetrisches Muster wie ein Netz aus rotem Licht, das die Umrisse Asconas nachzeichnete und in dem größere, flackernde Zentren die Endpunkte markierten: Kolonnen ineinandergeschobener, in Brand geratener Automobile, die die Ausfallstraßen abriegelten, das hell lodernde Zentrum, in dem Gebäude gleichzeitig Feuer gefangen haben mußten, dazwischen kleinere, aber allmählich ebenfalls zu einem Muster zusammenwachsende Lichtgebilde, und manchmal ein rasches, weißes Aufblitzen, das meistens zu schnell erlosch, als daß man es mit Blicken fixieren konnte. Schüsse, dachte Warstein entsetzt. Das müssen Schüsse sein.

»Großer Gott, was geht dort unten nur vor?« flüsterte Angelika. Sie hatte sich eng an Warsteins Schulter gepreßt, und ihre Fingernägel gruben sich selbst durch den Stoff der Jacke so tief in seinen Arm, daß es weh tat. Trotzdem streifte er ihre Hand nicht ab. Sie brauchte seine Nähe jetzt mehr denn je. Und er ihre.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Franke. Die Frage hatte gar nicht ihm gegolten. Eigentlich war es gar keine Frage gewesen, so wie seine Antwort nicht wirklich eine Antwort war. »Sie bringen sich gegenseitig um. Aber ich weiß nicht, warum. Irgend etwas Entsetzliches ist passiert.« Er beugte sich vor und gab dem Hubschrauberpiloten eine knappe Anweisung. Die Maschine verlor ein wenig an Höhe und schwenkte gleichzeitig nach Süden. Die sterbende Stadt begann unter ihnen davonzugleiten, während die schwarze Fläche des Sees näherkam.

Etwas daran war seltsam, dachte Warstein, aber es dauerte noch einige Sekunden, bis er begriff, was: Es waren keine Schiffe auf dem See. Kein einziges Licht, von einigen wenigen blassen Punkten weit im Süden abgesehen. Das Wasser lag so schwarz unter ihnen, als wäre es zu Teer erstarrt.

»Aber Sie müssen doch irgend etwas tun können!« sagte Angelika. »Wozu haben Sie all diese Soldaten? Lassen Sie sie...«

»...was tun?« unterbrach sie Franke. Er schüttelte grimmig den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was überhaupt vorgeht, Frau Berger. Wir haben eine Abteilung dort unten, aber es gibt keine Verbindung mehr zu ihr. Ich bin nicht einmal sicher, ob die Männer überhaupt noch am Leben sind.«

Angelika schloß seufzend die Augen, während der Hubschrauber weiter an Höhe verlor und zugleich nach links schwenkte, um der aufsteigenden heißen Luft über dem brennenden Stadtzentrum auszuweichen.

»Sie kennen den Landeplatz?« wandte sich Franke erneut an den Piloten. »Falls es dort nicht geht, landen Sie direkt am Ufer. Seien Sie vorsichtig.«

Angelika wandte endgültig den Kopf vom Fenster ab und verbarg das Gesicht für einen Moment an Warsteins Schulter. Sie zitterte. Seit sie den Tunnel verlassen hatten und in den Helikopter gestiegen waren, hatte sie nur sehr wenig gesprochen. Warstein bewunderte insgeheim ihre Tapferkeit, aber er spürte auch, daß sie nun mit ihren Kräften am Ende war. Der Anblick der sinnlos rasenden Gewalt, die durch die Straßen der Stadt unter ihnen tobte, war mehr, als sie ertragen konnte.

Und es war auch mehr, als er ertragen konnte. Was immer in diesem Berg erwacht sein mochte - es ließ ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte wahr werden. Aber warum war die Stadt unter ihnen dann ein Hexenkessel, in dem Menschen sich gegenseitig umbrachten, und nicht ein Paradies?

Er schüttelte die Frage - und vor allem die Antwort, die er ebensogut kannte - mit aller Macht ab und drehte sich ebenfalls vom Fenster weg. Der Hubschrauber hatte den See fast erreicht. Der Pilot schwenkte bereits in eine enge Kurve über der Uferpromenade ein, um nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau zu halten. Er fand keinen. Die Straßen waren voller Trümmer, brennender Autos und Menschen. Und selbst wenn er es gewagt hätte, die Maschine in all diesem Chaos aufzusetzen, hätten sie diese nicht verlassen können. Warstein war sicher, daß die aufgebrachte Menge sie sofort angegriffen hätte.

»Okay«, sagte Franke. »Versuchen Sie es unten am Ufer. Ein kleines Stück weiter westlich ... glaube ich.«

Warstein sah überrascht hoch. »Glauben Sie? Ich dachte, Sie wissen, wo sie sind.«

»Das weiß ich auch«, erwiderte Franke gereizt. »Aber als ich das letzte Mal hier war, sah es etwas anders aus, wissen Sie? Keine Sorge - wir werden sie schon finden. Schließlich sind sie nicht zu übersehen. Und diese verdammte Uferpromenade ist ja auch nicht endlos.«

Der Pilot ließ die Maschine noch weiter nach unten sacken und nahm gleichzeitig die Geschwindigkeit zurück. Obwohl die Straße unter ihnen vom flackernden Widerschein zahlloser Brände in rötliches Licht getaucht wurde, ließ er den großen Suchscheinwerfer der Maschine aufflammen und richtete ihn auf den schmalen, gras- und baumbestandenen Streifen, der die Straße vom eigentlichen Seeufer trennte. Sie sahen auch dort kämpfende Menschen, Verheerung und zahllose kleinere Brände.

»Dort!« sagte Franke plötzlich. »Das Lager! Sehen Sie!« Warstein erkannte fast genau unter der Maschine das, was Franke als Lager bezeichnet hatte: einen großen, unregelmäßigen Kreis, in dem das Gras niedergetrampelt war und auf dem sich erloschene Feuerstellen befanden. Von den versammelten Druiden, von denen Franke ihnen erzählt hatte, fehlte jede noch so kleine Spur.

»Wo sind sie?« murmelte Warstein.

»Und wo sind die Soldaten?« fügte Franke besorgt hinzu. »Verdammt, ich habe eine ganze Kompanie zu ihrem Schutz -«

»Um Gottes willen, seht doch!«

Franke brach mitten im Wort ab, als er Roglers Ausruf hörte, und blickte nach rechts, wohin der ausgestreckte Arm des Polizeibeamten wies. Warstein, Angelika und Lohmann taten dasselbe.

Für einige Sekunden wurde es sehr still in der Maschine. Niemand sprach, niemand rührte sich, ja, es schien, als ob für einen Moment nicht einmal einer der sechs Menschen im Inneren des Helikopters zu atmen wagte. Der Anblick war zu bizarr, zu erschreckend. Schließlich schwenkte der Pilot die Maschine herum und ließ sie langsam zum See hinuntergleiten. Der Scheinwerferstrahl stach in die Tiefe, huschte über Baumwipfel und Büsche und dann über glitzernden, feuchten Schlamm, wo eigentlich das Wasser des Lago Maggiore sein sollte.

Der See war nicht mehr da. An seiner Stelle erstreckte sich unter ihnen eine schwarze Alptraumlandschaft, die jäh in die Tiefe stürzte. Unweit dessen, wo vor Stunden noch das Ufer gewesen war, lagen die zerborstenen Überreste eines kleinen Schiffes, das offensichtlich gekentert und dann auf dem abschüssigen feuchten Grund ins Rutschen gekommen war.

Der Pilot folgte dem steil abstürzenden Grund, so daß sie sich schon bald tief unter dem ehemaligen Niveau des Sees befanden. Vom Wasser des Lago Maggiore war noch immer nichts zu sehen. Hier und da glitzerte eine Pfütze im feuchten Schlamm, beeilte sich ein kleines Rinnsal, im Morast zu versickern, aber der eigentliche See blieb verschwunden. Schließlich gab Franke dem Piloten ein Zeichen, kehrtzumachen. Der Mann ließ die Maschine in einem weiten Bogen herumschwenken und gleichzeitig wieder aufsteigen.

»Warten Sie«, sagte Franke plötzlich. »Fliegen Sie noch einmal zurück. Nach Süden.«

Der Pilot gehorchte widerspruchslos; auch wenn man ihm ansah, wie wenig ihm dieser Befehl behagte. Sie stiegen noch ein wenig weiter auf, wenn auch nicht so weit, daß sie sich über dem eigentlichen Seeniveau befanden, und schwenkten dann in die angegebene Richtung. Die Maschine gewann an Tempo. »Da vorne ist etwas«, sagte Franke nach einer Weile. Niemand antwortete. Sie alle konnten deutlich sehen, was Franke entdeckt hatte - aber keiner von ihnen konnte sagen, was es war. Etwas Großes, Glitzerndes. In das Geräusch der Rotoren mischte sich ein fernes, aber sehr mächtiges Grollen, das an Lautstärke zunahm, je näher sie der schwarzen Wand im Süden kamen.

Zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit wurde es sehr still im Inneren des Militärhubschraubers. Jetzt war es eine betäubende Stille, die sich wie eine körperliche Last auf die Seelen der sechs Menschen legte, als sie sahen, was vor ihnen im Licht des Scheinwerfers auftauchte. Der Helikopter wurde langsamer und hielt schließlich in der Luft an. Eine Minute verging, dann noch eine und noch eine.