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Es war Lohmann, der schließlich das erstickende Schweigen brach. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sie den Tunnel verlassen hatten. Doch seine Worte gingen im Grollen der tosenden Wassermassen beinahe unter.

»Nun, Herr Doktor Franke«, sagte er. »Glauben Sie immer noch, daß Sie eine wissenschaftliche Erklärung für all das finden?«

Franke schwieg. Er konnte nicht antworten. Er konnte sich nicht einmal rühren. Sein Blick hing wie paralysiert an der titanischen, schimmernden Wand, die sich vor ihnen nach beiden Seiten erstreckte; einer Wand aus nichts anderem als Wasser, Kilometer um Kilometer breit und dreihundert Meter hoch, so weit der Blick reichte. Wasser, das brüllend und schäumend in die Tiefe stürzte, um dort unten ebenso geheimnisvoll und schnell zu verschwinden wie der Teil des Sees, über dem sie schwebten. Es war kein Riff, keine Mauer; nichts als eine unsichtbare Barriere, die die Wassermassen zurückhielt und aus nichts anderem bestand als aus dem puren Wunsch, daß sie da war.

»Fliegen Sie zurück«, sagte Franke nach einer Weile.

Sie brachten den Weg zurück nach Ascona schweigend hinter sich. Warstein fiel auf, daß der Pilot die Maschine jetzt ein gutes Stück über der imaginären Oberfläche des Sees hielt, als hätte er Angst, das Wunder könnte sich als plötzliche Sinnestäuschung erweisen und das Wasser auf ebenso unmögliche Weise zurückkehren, wie es verschwunden war.

Als sie das Ufer erreichten, fanden sie die Toten. Es war Angelika, die sie entdeckte. Sie schlug mit einem unterdrückten Schrei die Hand vor den Mund und deutete mit der anderen nach links, auf eine Stelle einen Kilometer östlich ihrer Position. Ohne daß es eines besonderen Befehls Frankes bedurft hätte, änderte der Pilot den Kurs und hielt schließlich über dem Schlachtfeld in der Luft an; denn nichts anderes als genau das war es, was sie im grellen Lichtkegel des Scheinwerfers unter sich sahen.

»Jetzt wissen Sie, was mit Ihrer Kompanie Soldaten passiert ist«, murmelte Lohmann. Die Worte klangen bitter und waren voller Entsetzen und Schmerz. Warstein empfand dasselbe, gemischt mit einem hilflosen, rasenden Zorn, der nicht den Toten unter ihnen galt oder dem, was sie getan hatten, sondern nur dem Geschehen an sich.

Es waren nicht nur Frankes Soldaten, die dort unten am Ufer den Tod gefunden hatten. Die weitaus größere Anzahl von Toten waren Zivilisten, und Warstein erkannte voller Entsetzen, daß es nicht nur Männer waren. Der überwiegende Teil derer, die dem Maschinengewehrfeuer der Soldaten zum Opfer gefallen waren, bestand aus Frauen, Kindern und alten Menschen. Selbst für Warstein, der in strategischen Dingen keinerlei Erfahrung hatte, war es nicht schwer zu erkennen, was sich hier abgespielt haben mußte. Die Soldaten hatten sich unmittelbar am Wasser verschanzt, und die Angreifer waren in immer neuen Wellen von der Straße herunter auf sie losgestürmt, blind, ohne Furcht und augenscheinlich ohne nennenswerte Bewaffnung.

Warstein weigerte sich, die Anzahl der Toten zu schätzen, aber es mußten Hunderte sein. Die automatischen Waffen hatten entsetzlich unter ihnen gewütet, doch am Ende hatten sie den Männern in den grünen Tarnanzügen nichts mehr genutzt. Vielleicht, dachte Warstein matt, war ihnen am Schluß einfach die Munition ausgegangen.

»Gehen Sie tiefer!« befahl Franke. In seiner Stimme war ein Unterton, der auch Warstein aufhorchen ließ.

»Was ist los?«

Franke winkte unwillig ab und preßte die Stirn gegen die Seitenscheibe, um besser hinaussehen zu können. »Den Scheinwerfer mehr nach links!« befahl er. »Und versuchen Sie die Maschine ruhig zu halten!«

Gehorsam glitt der weiße Lichtkreis weiter nach links und verharrte auf einer Gruppe wirr übereinandergestürzter, zerfetzter, blutiger Leiber. Warstein blickte nur eine Sekunde hin und drehte hastig den Kopf zur Seite, aber es nutzte nichts. Er sah die furchtbaren Bilder noch immer.

»Jetzt langsam höher!« befahl Franke. »Richtung Park. Aber ganz langsam. Und schwenken Sie den Scheinwerfer!«

»Franke, bitte!« sagte Lohmann. »Haben Sie noch nicht genug gesehen?«

»Halten Sie den Mund«, antwortete Franke scharf. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen er offensichtlich gebannt weiter das furchtbare Bild unter ihnen betrachtete, dann sagte er: »Sie sind nicht dabei.«

Warstein sah auf. »Wer?«

»Sie«, wiederholte Franke. »Die Magier. Die Zauberer oder Druiden, oder wie immer Sie sie nennen wollen. Sie sind nicht unter den Toten.« Er begann heftig mit beiden Händen in Richtung des Piloten zu gestikulieren, drehte sich dabei aber nicht vom Fenster weg. »Landen Sie«, sagte er. »Aber vorsichtig. Und halten Sie den Park im Auge.«

Die Maschine glitt wieder ein Stück von den Bäumen weg und setzte dicht neben den toten Soldaten auf. Franke sprang von seinem Sitz hoch, noch ehe sie völlig zur Ruhe gekommen war. Mit einer knappen Geste befahl er Warstein und Lohmann, ihm zu folgen, schüttelte aber den Kopf, als auch Rogler sich von seinem Platz erheben wollte.

»Sie bleiben hier«, sagte er. »Passen Sie auf den Park auf - und auf sie.« Er deutete auf Angelika. »Wenn sich irgend etwas rührt, warnen Sie uns. Und zögern Sie nicht zu schießen. Sie sehen, was hier los ist.«

Er öffnete die Tür, sprang ins Freie und wartete ungeduldig, bis Warstein und nach einem gehörigen Zögern auch Lohmann ihm gefolgt waren.

»Was soll das?« schrie Lohmann. Er hatte alle Mühe, sich über das Rotorengeräusch hinweg verständlich zu machen. Trotzdem fuhr er fort: »Reicht Ihnen das noch nicht, was man von oben sieht?«

»Ich muß Gewißheit haben!« erwiderte Franke. »Wir müssen uns überzeugen, daß sie wirklich nicht dabei sind!«

»Wer?« fragte Lohmann.

»Sie erkennen sie sofort!« antwortete Franke. »Ich rede von Zauberern, verstehen Sie? Druiden, indianischen Medizinmännern, Hare-Krishnas... Achten Sie auf alte Männer in sonderbaren Kleidern.« Lohmanns Gesichtsausdruck nach zu schließen, zweifelte er mittlerweile ernsthaft an Frankes Verstand. Er warf Warstein einen hilfesuchenden Blick zu.

»Tun Sie, was er sagt!« schrie Warstein. »Fragen Sie nicht, tun Sie es einfach. Und beeilen Sie sich. Wir haben nicht mehr viel Zeit!«

Sie umgingen die Maschine in respektvollem Abstand zu den sich im Leerlauf drehenden Rotorblättern und machten sich an ihre grausige Aufgabe. So gewaltig das Gemetzel gewesen war, es hatte sich auf engstem Raum abgespielt. Der Abschnitt des Strandes, den Warstein zu untersuchen hatte, war kaum hundert Meter lang, und auch wenn die nachfolgenden Minuten vielleicht zu den schlimmsten seines bisherigen Lebens zählten - sie dauerten nicht lange. Schon nach kurzer Zeit machte er sich auf den Rückweg.

Er kam fast gleichzeitig mit einem sehr bleichen Lohmann wieder beim Helikopter an. Der Journalist zitterte am ganzen Leib, und in seinen Augen stand ein Grauen geschrieben, das er vielleicht nie wieder völlig loswerden würde. Es war eine Sache, über gewaltsamen Tod zu berichten, über ihn zu lesen, vielleicht Bilder in einer Zeitschrift oder auch im Fernsehen zu sehen, und eine ganz andere, ihn zu erleben.

»Nun?«

Warstein schüttelte den Kopf und drehte sich dann zu Franke herum, der seine Suche ebenfalls beendet hatte und zurückkam. »Nichts«, sagte er. »Sie sind nicht dabei. Wenn sie getötet worden sind, dann nicht hier.«

»Sie leben noch«, behauptete Franke. »Ich bin ganz sicher. Ich ... ich spüre es.«

»So?« Lohmann versuchte ganz offensichtlich, gewaltsam zu seiner alten Rolle zurückzufinden. »Woran?«

»Sie haben sie nicht gesehen«, erwiderte Franke. »Aber ich. Ich ... ich konnte mich ihnen nicht einmal nähern. Und die Soldaten auch nicht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand ihnen etwas anhaben konnte.«