Wenn das Gerät erst wirklich fertig und die neue Software, an der er arbeitete, perfekt darauf installiert war, dachte Warstein, würde sich Franke noch viel beeindruckter zeigen müssen, denn sein Laser war viel mehr als ein Zollstock aus Licht. Völlig in Betrieb genommen, würde ihnen das System alles über den Zustand des Tunnels verraten, was sie wissen wollten: Temperatur, Luftdruck, die Qualität der Atemluft, den Zustand der Trasse, die Spannungsverhältnisse in den Wänden, Daten über Materialermüdung und eventuelle Gefahrenpunkte - die Auflistung hätte sich fast beliebig lang fortsetzen lassen. Das Lasersystem würde den Gridone-Durchstich in einer weiteren Hinsicht zu etwas Besonderem machen, nämlich zu dem sichersten Eisenbahntunnel, den es je gegeben hatte. Nicht einmal eine Feldmaus konnte dann über die Gleise huschen, ohne daß die Computer es bemerkten.
»Warstein?«
Das häßliche Quäken von Frankes Stimme riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Und das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich: Er trug das Gerät in der Jackentasche, und die Stimme hatte alle Mühe, verständlich zu werden. Er war schon zu tief im Berg. Funksignale hatten so ihre Probleme, massiven Granit zu durchdringen.
Statt also das Walkie-talkie zu benutzen, ging er ein paar Schritte zurück, bis er einen Telefonanschluß erreichte. Er hob ab und wählte Frankes Nummer. Das Freizeichen ertönte sieben-, vielleicht sogar achtmal, bis Frankes Stimme aufhörte, in seiner Jackentasche zu randalieren, und eine schon sehr viel deutlichere, aber noch immer unangenehme Ausgabe desselben Organs unmittelbar in seiner rechten Ohrmuschel erklang.
»Warstein, zum Teufel, wo sind Sie?« Frankes Stimme klang schon weitaus weniger jovial als vorhin in seinem Büro. Noch etwas, was er an Franke haßte: Er gehörte zu jenen Männern, die am Telefon gerne und schnell unhöflich wurden. Warstein hoffte inständig, daß Franke die weltweite Einführung des Bildtelefons noch miterleben würde.
»Im Tunnel«, antwortete er. »Ich wollte gerade losfahren. Wahrscheinlich wäre ich es schon, hätten Sie mich nicht angerufen.«
Falls Franke die Spitze überhaupt begriff, so ignorierte er sie einfach. »Ich dachte schon, Sie wären jetzt auch noch verschollen«, knurrte er. »Hören Sie, Warstein - als ich Ihnen vorhin sagte, Sie sollten eine Pause machen, da meinte ich natürlich, nachdem sie aus dem Berg zurück sind, nicht vorher.«
»Jetzt übertreiben Sie bitte nicht, Dr. Franke«, sagte Warstein scharf. Er spürte, wie ihm Frankes Worte die Zornesröte ins Gesicht trieben. »Ich bin vielleicht nicht im Sprintertempo hierhergerannt, aber ich -«
Während er sprach, hatte er den Ärmel am linken Arm hochgeschüttelt. Und in der nächsten Sekunde vergaß er seinen Zorn auf Franke. Er vergaß sogar, was er hatte sagen wollen.
Eine Stunde.
Als er seinen Computer abgeschaltet hatte, hatte er gewohnheitsmäßig auf die Uhr gesehen. Seither war fast auf die Sekunde genau eine Stunde vergangen. Aber das war doch völlig unmöglich!
»Aber was?« fragte Franke kampflustig, nachdem er den Satz auch nach einer zweiten und dritten Sekunde nicht zu Ende geführt hatte.
»Wie spät ... wie spät ist es?« fragte Warstein mühsam. Seine Stimme klang belegt.
»Gleich sieben«, antwortete Franke. »In zwei Minuten, um präzise zu sein. Warum?«
»Weil ... weil ... nun, also, mir ist irgendwie gar nicht aufgefallen, wie schnell die Zeit vergangen ist«, improvisierte Warstein stotternd - und alles andere als glaubhaft. »Sie wissen ja, wie das ist - ein kleines Gespräch hier, ein Hallo da, ein bißchen Tratsch...« Er ertappte sich dabei, den Telefonhörer verlegen anzugrinsen.
»Nein, ich weiß nicht, wie das ist«, antwortete Franke kühl.
»Es tut mir leid«, stammelte Warstein. »Ich ... ich beeile mich.« Er hängte ein, bevor Franke noch etwas sagen konnte. Eine Stunde. Wo zum Teufel hatte er eine Stunde verloren?
Zutiefst verwirrt und mit einem Gefühl in der Magengrube, das für seinen Geschmack verdammt dicht an Angst grenzte, wandte er sich um und ging auf einen der beiden Wagen zu, die auf einem Nebengleis standen, das gerade lang genug war, um sie aufzunehmen. Im Grunde waren es nicht mehr als viereckige Plattformen auf vier Rädern, die statt von einem altmodischen Schwengel von einem kleinen, aber ungemein leistungsstarken Elektromotor bewegt wurden. Sie waren nicht sehr schnell, aber zuverlässig, und der eingebaute Mikroprozessor sorgte dafür, daß sich der Fahrer um nichts weiter zu kümmern hatte, als sein Ziel einzugeben und den Startknopf zu drücken.
Im Moment sorgten sie noch für etwas anderes: nämlich daß sich der Wagen nicht von der Stelle rührte.
Wider besseren Wissens drückte Warstein fünf- oder sechsmal hintereinander auf den entsprechenden Schalter, und jedes Mal etwas fester, so daß das Plastik beim letzten Mal bereits hörbar ächzte - was vielleicht daran lag, daß er sich einen Moment lang der närrischen Vorstellung hingegeben hatte, dieser Knopf wäre Frankes Gesicht. Erst dann sah er ein, daß er dem Gerät bitter Unrecht tat; sowohl mit diesem Vergleich als auch mit seiner Ungeduld. Der Minicomputer sorgte lediglich dafür, daß er nicht mit einem Wagen kollidierte, der ihm auf dem Gleis entgegenkam. Sie hatten alle tausend Meter Ausweichschleifen errichtet, aber wenn der Rechner zu dem Ergebnis kam, daß die Zeit nicht ausreichte, sie ungefährdet zu erreichen, blockierte er die Abfahrt.
Warstein wußte, daß er sich auf keine allzu lange Wartezeit gefaßt machen mußte. Die kleinen Wagen waren nicht sehr schnell, aber tausend Meter waren auch keine sehr große Entfernung - fünf Minuten, allerhöchstem zehn. Wenn Franke in dieser Zeit noch einmal anrief, würde er es einfach ignorieren und später behaupten, er hätte nichts gehört. Schließlich war er hier, weil mit den Kommunikationseinrichtungen in diesem Berg etwas nicht stimmte.
Die Vorstellung, wie Franke in seinem Büro saß und sich die Finger blutig drückte, erheiterte Warstein. Es war eine alberne Vorstellung, aber es war jene Art von privater Rache, die Untergebene zu allen Zeiten über das Gefühl der Hilflosigkeit hinweggetröstet hatte, das vielleicht die stärkste Waffe im täglichen Karrierekrieg war, und sie half auch Warstein. Er stellte sich vor, wie Franke sich tatsächlich die Finger wund drückte, wie sein Gesicht langsam puterrot anlief und sein Blutdruck die 300er Marke erreichte und überstieg. Mit dieser Vorstellung rettete er sich über die ersten zehn Minuten Wartezeit hinweg.
Die nächsten zehn Minuten amüsierte er sich damit, sich auszumalen, wie Franke ihn später - einem Herzinfarkt nahe und mit hysterischer Fistelstimme - anbrüllte und ihn fragte, wo zum Teufel er gesteckt habe, und mit dem Ausmalen der verschiedensten, originellen Antworten, die diesem aufgeblasenen Blödmann endgültig den Rest geben mußten. Herzinfarkt. Schlaganfall. Aus. Vorbei. Kein Franke mehr. Endlich Ruhe.
Dann waren insgesamt fünfundzwanzig Minuten vergangen, und Warstein kam nicht mehr umhin, sich einzugestehen, daß er wahrscheinlich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hier herumstehen und auf den Wagen warten konnte. Irgend etwas stimmte hier nicht.
Eine Sekunde lang war er versucht, das einzig Richtige zu tun - nämlich in der Leitzentrale anzurufen und die Jungs an den Computern zu bitten, die Strecke zu checken. Wahrscheinlich war der Wagen liegengeblieben. Pannen kamen selten vor, aber sie kamen vor. Vielleicht war das sogar schon das ganze Geheimnis - ein aus den Schienen springender Wagen konnte durchaus die Versorgungsleitungen treffen und beschädigen. Wenn der Laser unterbrochen war, konnte er auch keine Telefongespräche mehr transportieren.