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»Okay«, sagte Warstein. »Lohmann, Sie sind der näch...«

Er hatte sich zu Lohmann herumgedreht und die Hand ausgestreckt, aber er führte weder die Bewegung noch den Satz zu Ende.

Auch Lohmann war aufgestanden. Mit der linken Hand klammerte er sich an der Rückenlehne seines Sitzes fest, um das Gleichgewicht zu bewahren, und in der anderen hielt er eine Pistole, deren Mündung zwar heftig hin und her schwankte, trotzdem aber genau auf Warsteins Gesicht zielte.

»Ich bin bestimmt nicht der nächste«, antwortete Lohmann. »Von mir aus bringen Sie sich um - und diese hysterische Ziege da draußen gleich mit. Ich denke nicht daran, weiter bei diesem Irrsinn mitzumachen!«

»Lohmann, um Gottes willen!« keuchte Warstein. »Sind Sie verrückt geworden?«

»Wenn hier einer verrückt ist, dann bestimmt nicht ich«, behauptete Lohmann. »Springen Sie doch, wenn Sie Lust dazu haben! Ich verschwinde hier!« Er richtete seine Waffe für eine Sekunde auf den Piloten, um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ließ Warstein aber keinen Moment aus den Augen.

»Wir fliegen weiter. Auf die andere Seite des Berges.«

»Aber wohin wollen Sie denn, um Himmels willen?!« keuchte Warstein.

»Das ist mir egal!« antwortete Lohmann. Sein Blick flackerte. »Ich bleibe auf keinen Fall hier. Haben Sie die Bombe vergessen? Diese wahnsinnigen Idioten werden sie garantiert zünden! Und wenn das passiert, dann bin ich bestimmt nicht mehr hier!«

»Begreifen Sie immer noch nicht? Es gibt keinen sicheren Ort mehr!« sagte Warstein. »Sie können nirgendwohin fliehen! Ich flehe Sie an, Lohmann! Ohne Sie ist alles verloren. Wir brauchen Sie!«

»Vergessen Sie es«, erwiderte Lohmann. »Ich verschwinde jetzt hier. Sie haben zwei Sekunden, sich zu entscheiden, ob Sie bleiben oder mitfliegen, aber fliegen werden wir. Eins -« Rogler sprang ihn an.

Der Angriff kam völlig überraschend, und er hätte zweifellos Erfolg gehabt, aber in diesem Moment erzitterte die Maschine unter dem Hieb einer weiteren Sturmböe. Rogler verlor das Gleichgewicht, stolperte einen halben Schritt an Lohmann vorbei, und der Journalist schrie wütend auf und schoß.

Die Kugel traf Rogler genau in die Brust. Die Wucht des Geschosses reichte aus, ihn erneut herum und mit hochgerissenen Armen zur Seite zu wirbeln. Er traf den Piloten. Der Mann wurde nach vorne und gegen den Steuerknüppel geschleudert. Der Helikopter kippte mit aufheulender Turbine nach vorne. Warstein versuchte verzweifelt, sich am Türrahmen festzuhalten, aber in diesem Moment prallte Rogler gegen ihn. Aneinandergeklammert stürzten sie aus der Maschine. Das letzte, was Warstein bewußt wahrnahm, war der gewaltige Feuerball, in dem der Hubschrauber zwanzig Meter entfernt auseinanderbarst, dann prallte er auf den harten Felsboden auf und verlor das Bewußtsein.

Franke hatte den Schlund erreicht. Der Weg war mehr gewesen, als er schaffen konnte. Er war unzählige Male gestürzt und blutete. Aber er spürte nichts. Weder den Schmerz noch das Blut, das an seinen Händen und über sein Gesicht herablief, noch die Erschöpfung, die der lange Marsch in ihm hinterlassen hatte. Vor ihm lag das Tor zur Hölle, aber vielleicht auch die Pforte zum Paradies. Der Schlund kam ihm größer vor, viel, viel gewaltiger, als er ihn in Erinnerung hatte. Ein kreisrundes Loch in der Wirklichkeit, durch das der Atem der Welt entwich. Der Sturm, der über ihm am Himmel tobte, hatte unvorstellbare Dimensionen angenommen, aber hier, unmittelbar am Rande des Schachtes, war es fast windstill. Er befand sich im Auge des Orkans.

Franke stand lange und regungslos so da. Ein angedeutetes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er fragte sich, wieso er eigentlich keine Angst verspürte. Als er die Antwort gefunden hatte, machte er einen einzigen Schritt nach vorne und stürzte mit weitausgebreiteten Armen in den Schacht. Er hatte ihn erschaffen. Er würde ihn schließen. Auf die einzige Art und Weise, auf die er es konnte.

Der Sturz dauerte lange, unendlich lange, aber er wußte, was er am Ende sehen würde; hier, an jenem Ort absoluter Wahrheit, an der sein Alptraum, der im Grunde ein Traum gewesen war, Wirklichkeit wurde, und er erblickte es auch. Sein allerletzter Gedanke war: Mein Gott, ist das schön!

Sie hatten Rogler in den Windschatten der Hütte getragen, um wenigstens aus dem Sturm herauszusein, wenn sie schon den flackernden Lichtern und der knisternden Energie nicht entgehen konnten. Der Boden, über den sie gingen, leuchtete jetzt. Die Luft war so voller Spannung, daß jede ihrer Bewegungen kleine Schweife aus winzigen gelben Sternen hinterließ. Die Energie durchdrang alles. Den Boden, die Luft, ihre Körper, ihre Gedanken.

»Kann mir irgend jemand sagen, warum ich noch lebe?« stöhnte der Polizist. Er hatte das Bewußtsein wiedererlangt, besaß aber noch nicht die Kraft sich aufzusetzen. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, und das Atmen schien ihm große Mühe zu bereiten. Er hatte die rechte Hand gegen die Brust gepreßt und blickte mit wachsender Verwirrung darauf herab, als könnte er gar nicht begreifen, wieso zwischen seinen Fingern kein Blut hervorquoll.

»Der Kerl hat mich in die Brust geschossen, nicht?« Er hustete und verzog qualvoll das Gesicht. »Eigentlich sollte so etwas aus einem halben Meter Entfernung sofort tödlich sein. Jedenfalls erzähle ich das immer jedem, der mich danach fragt.«

Warstein mußte gegen seinen Willen lächeln. Rogler gewann seine Kraft rasch zurück: schneller als er zu hoffen gewagt hatte. Auch wenn es nichts mehr nutzen würde. Lohmann hatte mehr getan, als sich und den Piloten umzubringen. Vielleicht hatte er diesem ganzen Planeten den Todesstoß versetzt.

»Die Waffe war mit Hartgummigeschossen geladen«, antwortete er mit einiger Verspätung. »Ich hatte sie ganz vergessen, aber Lohmann muß sie eingesteckt und mitgenommen haben.«

»Dieser Idiot«, murmelte Rogler. »O verdammt, tut das weh. Ich glaube, er hat mir mindestens eine Rippe gebrochen.« Er versuchte sich aufzurichten, sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und versuchte es erneut, als Warstein ihm die Hand entgegenstreckte. Diesmal gelang es ihm.

»Es hat ihm nicht viel genutzt«, sagte Warstein ernst.

Rogler sah ihn verwirrt an. Dann folgte er seinem Blick und sah in die Richtung, in der das Helikopterwrack lag. Die Maschine war auf der anderen Seite des Felsens abgestürzt, aber der Feuerschein war selbst hier noch deutlich zu sehen. »Er ist tot«, sagte Warstein leise. Noch leiser fügte er hinzu: »Jetzt ist alles vorbei.«

»Vorbei?« Rogler sah ihn fragend an. »Was?«

»Wir haben ihn gebraucht«, antwortete Warstein. Seltsam - er empfand nicht einmal wirklichen Schrecken. Er war nicht einmal wirklich enttäuscht. Es war, als hätte er insgeheim die ganze Zeit über gewußt, daß es sowieso nicht klappen konnte.

»Wozu?« fragte Rogler. »Ich meine, ich kenne diesen Mann kaum, aber ich frage mich trotzdem, wozu man einen solchen Narren braucht.«

Warstein deutete auf den Eingang der Hütte. »Was immer dort auf uns wartet, Rogler - es wartet auf drei Menschen, nicht auf zwei.« Er seufzte tief. »Es war umsonst.«

»Wir sind drei«, sagte Angelika ruhig.

Es dauerte eine Sekunde, bis ihre Worte wirklich in Warsteins Bewußtsein drangen. Fassungslos hob er den Kopf und starrte sie an.

»O nein«, sagte Rogler. Er wedelte heftig mit beiden Händen. »Ganz bestimmt nicht. Ich weiß, was Sie denken. Vergessen Sie es gleich wieder. Ich habe keine Ahnung von solchen Dingen. Und ich will damit auch nichts zu tun haben.«

Warstein streckte abermals die Hand aus. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Rogler noch einmal. »Ich ... ich verstehe nichts von Zauberei und solchen Dingen.« Trotzdem ergriff er nach einigen Sekunden Warsteins ausgestreckte Hand und ließ sich von ihm vollends auf die Beine helfen. Sein Gesicht zuckte immer noch vor Schmerz, aber er unterdrückte tapfer jeden Laut und folgte Angelika und Warstein zur anderen Seite der Hütte.