Zwei Gründe sprachen dagegen: zum einen hätte ein solcher Unfall sofort Alarm ausgelöst, und zum anderen wäre es Wasser auf Frankes Mühlen gewesen, wenn er sich nach zwanzig Minuten von praktisch der gleichen Stelle wieder meldete. Außerdem war er nicht in der Stimmung, vernünftig zu sein.
Also marschierte er los. Er hatte den Startknopf schließlich oft genug gedrückt - sollte ihm der überfällige Wagen nach ein paar Schritten entgegenkommen, würde die Elektrodraisine losfahren, sofort nachdem er die Weiche passiert hatte, und er konnte bequem aufspringen. Und wenn nicht - das Schlimmste, was ihm blühen konnte, war ein Fünf-Kilometer-Marsch; nicht unbedingt ein Spaziergang, aber zu schaffen. Und der Gedanke an eine weitere Stunde, die Franke auf ihn warten mußte, versüßte ihm den bevorstehenden Gang doch erheblich.
Aber seine Schadenfreude war ein bißchen schal. Der Trost, den sie ihm spenden sollte, hielt nicht lange vor, und als er die erste Ausweichschleife erreichte, ohne auf den entgegenkommenden Wagen gestoßen zu sein, war nichts mehr davon übrig. Sein Helmscheinwerfer beleuchtete die nächsten zwanzig oder dreißig Meter des Schienenstranges. Auch wenn der Wagen noch ein gehöriges Stück weiter entfernt gewesen wäre, hätte er ihn sehen müssen. Der Tunnel verlief absolut gerade, und die vollautomatischen Transporter waren schon aus Sicherheitsgründen mit starken Scheinwerfern ausgestattet. So ungern Warstein es sich eingestand, es gab nur eine einzige, logische Erklärung für alles: die gesamte Elektronik in diesem Berg spielte verrückt. Und das war nicht besonders lustig, denn für die Elektronik zeichnete sich einzig und allein er verantwortlich.
Warstein marschierte schneller, wobei er vorsichtshalber einen Schritt vom Gleis heruntertrat. Das Gehen wurde dadurch zwar um etliches mühsamer, aber einem Zug, der sich so sonderbar benahm, traute er auch zu, ohne Licht herangebraust zu kommen.
Die Stille fiel ihm auf, denn es war ein Schweigen, das vollkommen ungewöhnlich war. Warstein war unzählige Male hier gewesen, und was ihn stets aufs neue überraschte, war die Vielzahl von Geräuschen. Das Dröhnen der Fräse, das in der engen Röhre selbst über Kilometer hinweg noch zu hören war, ein elektrisches Summen und Wispern, das Rauschen der gewaltigen Ventilatoren, die den Tunnel mit einem beständigen Strom von Frischluft versorgten, das Sirren eiserner Räder auf Schienen, menschliche Stimmen, manchmal Fetzen von Gesprächen, die Kilometer entfernt geführt wurden, und nicht einmal besonders laut. Und selbst wenn alle diese menschlichen Laute verstummten, hörte man noch andere: das Geräusch des Windes, der sich am Eingang brach und manchmal hereinfauchte, ehe seine Kraft nachließ, und manchmal ein schweres Knistern und Ächzen, die Lebensgeräusche des Berges, der sich wie ein schlafender Riese in seinem Bett zu regen schien.
Jetzt war es vollkommen still. Er hörte nicht einmal mehr das Geräusch seiner eigenen Schritte, als würde es von irgend etwas verschluckt, ehe es an sein Gehör dringen konnte.
Warstein drehte den Kopf ein paarmal hastig nach rechts und links, vorne und hinten. Sein Herz klopfte. Der Helmscheinwerfer, der die Bewegung gehorsam nachvollzog, zerschnitt die Dunkelheit in ineinanderfließende Zonen aus absoluter Schwärze und gelbem Licht, und für eine Sekunde hatte er das Gefühl, daß sich in den Grenzbereichen dazwischen etwas bewegte; etwas Körperloses, Großes, das näher kroch, immer wenn er es auch nur eine Sekunde aus den Augen ließ.
Natürlich war das vollkommener Unsinn. Warstein schloß die Augen, zählte in Gedanken bis fünf und zwang sich gewaltsam zur Ruhe, und als er die Lider wieder hob, waren die Schatten verschwunden. Die Dunkelheit war wieder nichts weiter als Dunkelheit. Mehr war sie nie gewesen. Auch die Geräusche waren wieder da.
Warstein fuhr sich nervös mit dem Handrücken über Kinn und Lippen. Er hatte nicht wirklich Angst, aber die Situation hatte etwas beinahe Surreales. Was war nur mit ihm los? Es hatte begonnen, als ... ja - als er den Verrückten gesehen hatte. Das unheimliche Gefühl, von ihm angestarrt zu werden, hatte ihn die ganze Zeit über nicht wirklich verlassen. Und es war noch da.
Er ging weiter und versuchte sich mit Gewalt zu dem zu zwingen, worin er am besten war: rationalem Denken. Aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Es wurde auch nicht besser, als er endlich den Wagen sah. Sein Anblick beruhigte ihn für eine Sekunde - großzügig geschätzt.
Das Licht. Der große Scheinwerfer an der Vorderseite des Zuges brannte, und trotzdem sah er ihn erst, als er noch ungefähr fünf Meter entfernt war. Der Zug erschien im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nichts. Wäre Warstein weiter auf den Schienen gelaufen, hätte er ihn zweifellos erfaßt und überrollt.
Der Transporter, der aus einer kleinen, vollautomatischen Schmalspur-Lok und fünf Hängern bestand, war hoch beladen. Felsbrocken und Schutt türmten sich anderthalb Meter über den zerbeulten Wänden, und alles, die Wagen, ihre Last, die Zugmaschine mit ihren blinkenden Lichtern, der Scheinwerfer, ja, selbst die stählernen Räder, war von einer dünnen, glitzernden Rauhreifschicht bedeckt. Der Wagen glitt beinahe lautlos vorüber, aber Warstein spürte den eisigen Hauch, der sein Gesicht streifte und seine Haut prickeln ließ. Und als wäre das alles noch nicht genug, hatte er ihn kaum passiert, da verschwand er genauso gespenstisch und lautlos wieder in der Dunkelheit, wie er erschienen war. Warstein starrte ihm verwirrt nach. Sein Gesicht prickelte noch immer vor Kälte, und seine Hände zitterten. Verlor er jetzt endgültig den Verstand?
Für einen Moment begann sich Hysterie in ihm breitzumachen, aber es gelang ihm, sie niederzukämpfen - wenn auch buchstäblich mit letzter Kraft, und vielleicht nicht einmal auf Dauer. Er war nicht verrückt. Irgend etwas stimmte hier nicht. Er hatte Halluzinationen, das war die einzig logische Erklärung. Warstein wich Schritt für Schritt zur gegenüberliegenden Wand zurück und preßte sich gegen den rauhen Fels. Etwas Metallisches schnitt schmerzhaft in seinen Rücken, aber Warstein wich dem Schmerz nicht aus, sondern klammerte sich im Gegenteil daran, als wäre er das einzig Reale in einer Welt, die aus den Fugen geraten war, obwohl er nach einigen Sekunden so schlimm wurde, daß er ihm die Tränen in die Augen trieb.
Halluzinationen. Irgend etwas ... stimmte hier nicht.
Gas. Die Fräse hatte irgend etwas freigesetzt, vielleicht ein unbekanntes Gas, das den Überwachungsgeräten entgangen war. Das war auch die Erklärung, daß sich die Männer weiter hinten im Tunnel nicht meldeten: sie waren bewußtlos oder zu lallenden Idioten geworden oder bereits tot.
Tief in sich wußte Warstein, daß das nicht die Erklärung war. Die Atemluft im Tunnel wurde ständig von gleich drei vollkommen voneinander unabhängigen Systemen hochspezialisierter Gas-Chromatographen überwacht, die bereits ausschlugen, wenn einer der Arbeiter zwei Tage lang seine Socken nicht gewechselt hatte. Kein noch so unbekanntes Gas wäre ihnen entgangen; schon gar keines, das zu solch massiven Halluzinationen führte. Aber es war die einzige Erklärung, die er auf Anhieb fand - und die nicht dazu angetan war, ihn endgültig an seinem klaren Verstand zweifeln zu lassen.
Außerdem gab sie ihm einen verdammt guten Grund, nicht weiter zu gehen. Die linke Schulter so dicht an die Wand gepreßt, daß seine Strickjacke Fäden zog, tastete er sich zum nächsten Telefonanschluß zurück, hob ab und wählte mit zitternden Fingern Frankes Nummer.
Nichts.
Das Freizeichen kam nicht.
Warstein schüttelte den Hörer ein paarmal. Natürlich wußte er, daß das vollkommen sinnlos war, aber er tat es trotzdem, und er starrte den Hörer hinterher einige Sekunden lang eindeutig vorwurfsvoll an, ehe er einhängte, bis zehn zählte und es dann noch einmal versuchte; diesmal mit einer anderen Nummer. Das Ergebnis war dasselbe. Er hörte nichts. Plötzlich verfluchte Warstein den Umstand beinahe, daß die Telefonverbindung wie fast alles hier über den Laser ablief; er hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, wenigstens ein statisches Rauschen zu hören, oder irgendein Störgeräusch. Aber die Verbindung war absolut störungsfrei.