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»So?« fragte Warstein kühl.

»Oder doch. Ich meine, Sie sind vermutlich der einzige, der es kann, aber es gibt noch jemanden, der es wenigstens versuchen will. Er kann uns beiden helfen - in die Schweiz zu kommen, und vielleicht auch meinen Mann zu finden.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte Warstein. »Ein Journalist.«

Diesmal hatte er sie ehrlich überrascht. »Woher wissen Sie das?«

»Weil diese freundlichen Herrschaften mir schon damals voller Begeisterung geholfen haben«, antwortete er höhnisch. »So lange, bis sie hatten, was sie wollten. Sie haben mir jedes Wort geglaubt. Sie haben fleißig notiert und mitgeschnitten, und dann zu Hause in der Redaktion in aller Ruhe ihre Kommentare dazu verfaßt. Wollen Sie einige davon hören?« Er machte eine zornige Bewegung auf ihren Ordner. »Ich habe zwar keine Mappe, aber ich habe das meiste nie vergessen. Nein, danke.«

»Aber der Mann könnte uns helfen«, beharrte Berger. Warstein fiel in diesem Moment gar nicht auf, daß die Frage, ob er ihr helfen würde, anscheinend schon gar nicht mehr zur Debatte stand. »Ich weiß, daß Sie allen Reportern mißtrauen, und wahrscheinlich haben Sie jeden nur denkbaren Grund dazu. Ich traue ihnen auch nicht.«

»Das klang gerade aber ganz anders.«

»Ich sehe die Sache so«, antwortete Berger ungerührt. »Natürlich ist er nur hinter einer Story her. Aber solange er glaubt, daß wir ihm helfen, sie zu bekommen, wird er uns helfen. So einfach ist das.«

Und so falsch, dachte Warstein. Er konnte das aus persönlicher Erfahrung behaupten. Er hatte genauso gedacht, vor drei Jahren. Das Problem war nur, daß Journalisten sich lieber mit einer kleinen Story zufriedengaben, als gar keine zu bekommen. Und ein angesehener junger Diplom-Ingenieur, der plötzlich anfing, von Geistern und Flüchen und uralten Mächten zu faseln, war allemal für ein paar Schlagzeilen gut.

Er stand auf, ging zum Kühlschrank und nahm sich eine neue Dose Bier. Sie schmeckte noch weniger als die erste, und die Menge an Alkohol reichte nicht annähernd, um irgendeine Wirkung bei ihm hervorzurufen; außer schlechten Atem. Er hatte etwas gebraucht, um seine Hände zu beschäftigen.

Berger, die erst jetzt die Aufschrift auf der Dose entdeckte, legte den Kopf schräg und blinzelte. »Ist das Zufall?«

»Daß das Zeug genauso heißt wie ich?« Warstein nickte. »Ja. Daß ich es trinke, nicht. Es schmeckt nicht einmal besonders, und im Grunde kann ich es mir gar nicht leisten. Aber ich finde es irgendwie ganz witzig.«

Er wollte die Dose ansetzen, aber plötzlich stand sie neben ihm und drückte sie mit Zeige- und Mittelfinger herunter. Nicht sehr fest, aber doch so, daß es zu einem Kräftemessen zwischen ihnen gekommen wäre, hätte er sich widersetzt. Sie kam ihm dabei zwangsläufig ganz nahe, so daß er spürte, wie gut ihr Haar und ihr Parfüm rochen, und vor allem und viel mehr spürte er ihre bloße Nähe. Sie machte ihn nervös. Und sie machte ihn zornig. Sie machte ihn nervös, weil ihm seit drei Jahren keine Frau mehr so nahe gekommen war, die er nicht dafür bezahlt hätte, und sie machte ihn zornig, weil er wußte, daß sie es aus genau diesem Grund tat.

Schneidend und mit keiner anderen Absicht, als sie zu verletzen, fragte er: »Ich glaube wirklich, Sie würden sogar so weit gehen, nur damit ich mitkomme, wie?«

Sie versteifte sich. Während sie die Hand herunternahm und fast fluchtartig zwei Schritte vor ihm zurückwich, setzte er seine Bierdose wieder an, trank einen Schluck und fand, daß es an der Zeit sei, noch ein wenig Salz in die Wunde zu streuen.

»Würden Sie es? Ich meine, lieben Sie Ihren Mann wirklich so sehr, daß Sie so weit gehen würden, damit ich Sie und diesen Zeitungsschmierer begleite? Oder gehören Sie einfach zu denen, die keine Absagen ertragen können?«

Endlich sah er die gewünschte Reaktion in ihren Augen. Nichts, was er zuvor gesagt oder getan hatte, war überraschend für sie gekommen - aber auf Tiefschläge hatte sie sich nicht vorbereiten können. Aus Schmerz, Erschrecken und Verzweiflung in ihrem Blick wurde lodernde Wut.

»Sie ... Sie...«

»Was?« unterbrach sie Warstein. Er kam sich selbst gemein und niederträchtig vor wie nie zuvor.

Später, als sie gegangen war und er noch einmal über alles nachdachte, machte er eine wichtige Erfahrung: daß es eben nicht hilft, anderen weh zu tun, wenn einem selbst weh getan worden ist. Es erleichterte nicht einmal. Im Gegenteil - es machte alles noch schlimmer.

Trotzdem nahm er nichts zurück, weder von dem, was er gesagt, noch von dem, was er angedeutet hatte, sondern deutete nur mit der Hand, die die Bierdose hielt, auf die Tür. »Gehen Sie. Und vergessen Sie Ihre Mappe nicht.«

Ihre Augen füllten sich endgültig mit Tränen, während sie den grünen Plastikordner anstarrte. Sie versuchte jetzt nicht mehr, sie zurückzuhalten. Warstein bemühte sich vergeblich, sich einzureden, daß es nur Tränen der Wut waren. Geschlagene zehn Sekunden stand sie vollkommen reglos da, dann raffte sie ihre Handtasche an sich, wirbelte auf dem Absatz herum und warf die Tür so heftig hinter sich zu, daß Vlad mit einem erschrockenen Satz schon wieder auf das oberste Bücherbord hinaufhüpfte und auch noch den Rest seines Inhaltes herunterwarf. Die Mappe ließ sie liegen.

Warstein begann am ganzen Leib zu zittern, nachdem Berger gegangen war. Er konnte ihre Schritte durch die dünne Tür hindurch auf dem Flur hören; einige Sekunden später abgelöst vom Geräusch des Aufzuges. Warstein zählte in Gedanken bis dreißig, dann drehte er sich herum und trat ans Fenster. Berger erschien fast im gleichen Augenblick unten vor dem Haus. Sie überquerte im Sturmschritt, ohne nach rechts oder links zu sehen, die Straße und stieg in einen dunkelroten Austin Mini, der am gegenüberliegenden Straßenrand geparkt war. Warum hatte er das getan? Er hatte sie loswerden wollen, und er hatte geglaubt, es wäre gleich, um welchen Preis, doch das stimmte nicht. Er zitterte noch immer am ganzen Leib, und seine Hände bebten so stark, daß er Mühe hatte, die Bierdose zu halten. Mit schnellen, zornigen Schlucken leerte er sie, drehte sich mit einem Ruck vom Fenster weg und schleuderte die Dose in eine Ecke. Sie prallte mit einem hohlen Geräusch ab und riß einen Teil des schmutzigen Geschirrs herunter, das sich auf der Spüle türmte. Vlad kommentierte die ganze Katastrophe mit einem zornigen Fauchen.

Warstein beruhigte sich nicht. Im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Seine Hände zitterten nicht mehr, sie zuckten, sein Herz hämmerte wild, und er war plötzlich in kalten, klebrigen Schweiß gebadet. Es war zu spät. Was er getan hatte, war pure Notwehr gewesen, aber sie war zu spät gekommen. Sie hatte die Geister der Vergangenheit geweckt, und keine Macht der Welt konnte sie jetzt noch in den Abgrund zurückjagen, in den er sie drei Jahre lang verbannt hatte. Er hatte immer gewußt, daß sie eines Tages ausbrechen würden, aber nicht jetzt. Nicht so.

Vielleicht war das die Natur böser Geister: Sie kamen immer dann, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnete.

Falls er seiner Uhr noch trauen konnte, hatte er viel mehr als die erwartete Stunde gebraucht, um den Rest der Strecke zurückzulegen. Das Gehen war noch schwieriger geworden, und obwohl er wußte, daß ihm kein weiterer Zug mehr entgegenkommen konnte, hatte er es nicht mehr gewagt, die Schienen noch einmal zu betreten, um auf den Schwellen bequemer und vor allem schneller von der Stelle zu kommen. Vor zehn Minuten hatte er die letzte Weiche passiert. Das Ende des Tunnels und die Männer hätten längst in Sicht kommen müssen; von der gewaltigen Fräse ganz zu schweigen. Er hätte sie zumindest hören müssen - das Dröhnen und Mahlen der diamantbesetzten Bohrköpfe war manchmal selbst außerhalb des Berges zu hören, und die enge Steinröhre wirkte wie ein Schalltrichter, der normalerweise jeden Laut zigfach verstärkte.

Er wollte nicht weitergehen. Er hätte alles darum gegeben, umkehren oder wenigstens stehenbleiben zu können, denn er war sicher, daß er etwas Entsetzliches entdecken würde, wenn er bis zum Ende des Tunnels ging. Es war mehr als ein technisches Versagen. Die Männer mußten tot sein. Verschüttet, erstickt oder auf irgendeine andere unsagbare Weise ums Leben gekommen, denn wenn es sich lediglich um einen technischen Fehler gehandelt hätte, so hätte sich mindestens einer von ihnen längst auf den Rückweg gemacht, und er wäre ihm begegnet. Obwohl er nur den kleinen Helmscheinwerfer als Lichtquelle hatte, reichte er doch aus, den zwanzig Meter breiten Stollen zur Genüge zu beleuchten.