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Niemand war ihm entgegengekommen. Niemand hatte gerufen, oder sich sonstwie gemeldet. Vielleicht war die Fräse explodiert. Vielleicht war der Stollen eingestürzt, oder die Männer hatten sich gegenseitig umgebracht - auch wenn die Gefahr eines Gaseinbruches so gut wie ausgeschlossen war, so gab es doch tausend andere Dinge, die ihnen zugestoßen sein konnten. Es gab Strahlungen, die wahnsinnig machten. Es gab Massenhysterie. Es gab... Alles war denkbar. Gott allein mochte wissen, was in diesem verdammten Berg verborgen war, und was sie mit ihrer frevelhaften Tat geweckt hatten. Warstein spürte, daß er schon wieder im Begriff war, sich selbst in Hysterie zu reden. Aber diesmal half dieses Wissen nichts. Er ging weiter, mit immer langsameren, immer kleineren Schritten, doch obwohl er sich mit jeder Sekunde neue Schrecknisse ausmalte, die am Ende seines Weges auf ihn warteten, war es ihm einfach nicht möglich stehenzubleiben. Was immer dort vorne war, zog ihn magisch an.

Seiner Schätzung nach hätte er das Ende des Vortriebs längst erreichen müssen, als er das Licht sah. Im ersten Moment war es nur ein matter Glanz, der vom Schein seiner eigenen Lampe fast überstrahlt wurde. Warstein schaltete sie aus und schloß für zwei Sekunden die Augen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und als er die Lider wieder hob, sah er das Licht deutlicher. Es war kein Scheinwerfer, wie er zuerst geglaubt hatte, keine Lampe, aber auch kein Feuerschein - am Ende des Tunnels, in einer unmöglich zu schätzenden Entfernung, die aber nicht sehr groß sein konnte, strahlte ein seltsames, mildes weißes Licht, das viel rascher an Leuchtkraft zunahm, als Warstein sich darauf zubewegte. Schon nach einigen Sekunden blendete es ihn fast, und sein Schein zeichnete harte, tiefe Schatten auf die Wände und den Boden. Und es war ein Licht, das irgendwie selektiv zu sein schien, obwohl Warstein ganz genau wußte, daß das unmöglich war. Doch da, wo es natürlich gewachsenen Fels berührte, da hob es alle Details und Einzelheiten deutlich hervor, aber gleichsam wie eine modellierende Hand, die für Tiefe und Schärfe sorgte, wo vorher nur Andeutungen gewesen waren, während es da, wo es auf Stützen und Pfeiler traf, auf Streben und Leitungen, auf Schienen und Versorgungskanäle, einfach nur grell war; so unangenehm grell, daß man nicht lange hinsehen konnte. Aber Warstein registrierte dieses Phänomen nur mit einem flüchtigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet, auf das Licht, auf das nicht nur er sich, sondern das sich auch auf ihn zubewegte. Er hatte das Ende des Stollens jetzt fast erreicht. Vor ihm war etwas. Er konnte nur einen verschwimmenden Schatten in einem Meer aus weißer Helligkeit sehen, doch schon diese vagen Konturen verrieten ihm, daß es die Fräse war: das stählerne Ungeheuer, das sie vor zwei Jahren auf diesen Berg angesetzt hatten und das sich seither mit der unerbittlichen Beharrlichkeit eines computergesteuerten Killers in seinen Leib hinein grub und wühlte. Warstein dachte diesen Gedanken mit genau diesen Worten; Worten, die ihm vor zwei Stunden noch nicht einmal in den Sinn gekommen wären. Wie jeder hier hatte auch er sich schon bei dem naiven Gedanken ertappt, sich zu fragen, ob diese Berge vielleicht auf eine gewisse Art lebten; Geschöpfe wie sie waren, nur so unvorstellbar fremd, so unvorstellbar anders, daß sie das niemals erkennen konnten. Jetzt wußte er, daß es so war. Etwas war mit ihm geschehen, während er durch den auf so unheimliche Weise veränderten Tunnel gelaufen war. Die Veränderung war viel tiefer und grundlegender, als er bisher schon ahnte. Aber er war sich ihrer bewußt und fragte sich, was als nächstes geschehen würde.

Er fand die Fräse. Der Schatten war der stählerne Koloß gewesen, und dieser gewann so schnell an räumlicher Substanz, daß Warstein erschrocken zusammenfuhr und nun doch einen Moment stehenblieb. Es gab kein allmähliches Erkennen. Was vor dem Bruchteil einer Sekunde noch ein weicher Schemen und ein weißer Lichtkreis gewesen war, das offenbarte sich ihm ebenso plötzlich und hart wie der Zug vorhin als die riesige Tunnelbaumaschine. Sie stand keine zehn Meter mehr vor ihm, und obwohl zwischen ihrem Ende und ihrer vorderen Front noch einmal gute fünfundzwanzig Meter lagen, erkannte er doch jedes winzige Detail mit beinahe übernatürlicher Schärfe; fast als sorge die gleiche, unheimliche Macht, die seine Sinne bisher verwirrt hatte, nun dafür, daß sie zum Ausgleich jetzt mit nie gekannter Präzision arbeiteten.

Die Fräse war zum Stehen gekommen. Die acht gewaltigen Bohrköpfe, die wiederum aus einem Dutzend kleinerer, sich gegeneinander drehender diamantbesetzter Kreisel bestanden, rührten sich nicht mehr. Warstein verglich diese Fräse gern mit einem Kraken, und tatsächlich hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit damit - der gewaltige, stählerne Leib, an dem eine ebenso robuste wie komplizierte Mechanik dafür verantwortlich war, Felsschutt und Trümmer direkt in die Loren der Abraumzüge zu transportieren, endete in einem nur nach hinten offenen Führerhaus, in dem ein im Grunde vollkommen überflüssiger menschlicher Pilot über das elektronische Gehirn der Maschine wachte. Nach vorne, oben und zu beiden Seiten war er von schweren Stahlplatten abgeschirmt, falls sich doch einmal ein herumfliegender Brocken verirren sollte. Trotzdem war die Arbeit dort oben heiß, laut, staubig und alles andere als angenehm. Direkt dahinter erhob sich der eigentliche Bohrmechanismus - ein aus acht einzelnen Segmenten bestehender, flach gegen die Wand gepreßter Teller aus Stahl, der selbst den härtesten Granit zerrieb, als wäre er nicht mehr als weicher Sandstein.

Das Führerhaus war verwaist. Und auch von den Männern des Bautrupps, die hier am Ende des Vortriebs arbeiteten, war nichts zu sehen. Warstein ging langsam an der Flanke der gewaltigen Fräse entlang und suchte nach Spuren mechanischer Beschädigungen. Er fand nichts. Der gepanzerte Leib des Stahlkraken war übersät von Dellen, Schrammen und Kratzern, Schweißnähten und stählernen Ricken, aber das war nichts, was diesen Koloß ernsthaft beeinträchtigen konnte; Narben, die dieses stählerne Schlachtroß in den unzähligen Gefechten seines Lebens davongetragen hatte. Keine davon war neu oder so groß, daß sie Warsteins besondere Aufmerksamkeit erweckt hätte. Vor der metallenen Leiter, die zum Fahrerstand hinauf führte, blieb er einen Moment stehen und überlegte hochzuklettern. Aber er konnte ihn von hier aus ganz gut einsehen. Wenn dort oben jemand gewesen wäre, hätte er schon auf dem Boden liegen müssen. Und vielleicht hatte er ja Angst, diese Entdeckung zu machen. Er ging weiter, erreichte schließlich die Wand und ließ seinen Blick aufmerksam darüber gleiten.

Auch hier war nichts Auffälliges zu entdecken. Die Bohrköpfe drehten sich nicht mehr, aber Warstein vermochte den Grund dafür zumindest auf Anhieb nicht zu sehen. Kein besonders großer, besonders harter Felsbrocken. Keine Einschlüsse aus Quarz oder Kristall oder ein Bereich mit anders verlaufender Schichtung - all das nicht, was diesen metallenen Steinfresser ohnehin nicht hätte aufhalten dürfen; unter ganz bestimmten ungünstigen Umständen aber hätte aufhalten können. Doch vor ihm war nur Fels, der allgegenwärtige, ganz besonders harte, aber doch durch und durch normale schwarze Granit des Gridone, dem diese Maschine seit Jahren zu Leibe rückte, ohne mehr als ein paar Zähne dabei verloren zu haben.

Dann entdeckte er doch etwas. Nicht unbedingt das, wonach er gesucht hatte, und ganz bestimmt nicht das, was diese Maschine angehalten hatte. Direkt vor ihm, nicht ganz zwei Meter hoch an der Wand und soweit er sehen konnte, von einer Seite des Tunnels bis zur anderen reichend, zog sich eine dünne, schnurgerade blaue Linie dahin. Warstein trat neugierig näher, betrachtete die Linie einige Momente und schaltete dann trotz der an sich ausreichenden Helligkeit noch seinen Scheinwerfer ein. Die Linie blieb. Sie war keine Täuschung gewesen, und sie war auch nicht natürlichen Ursprungs. Warstein streckte die Hand aus und kratzte prüfend daran, und was unter seinem Fingernagel zurückblieb, das war nichts anderes als blaue Farbe. Jemand hatte diese Linie auf den Stein gemalt.