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An einer Stelle, die bis gestern abend noch unerreichbar im Herzen des Berges gelegen hatte.

Warstein trat einen Schritt zurück und hob den Kopf. Der gelbe Kreis seines Helmscheinwerfers, der wie ein gehorsamer Suchhund die Wand emporhuschte, offenbarte ihm weitere blaue Linien, die sich, einem komplizierten Muster folgend, über die Wand erstreckten. Er war zu nahe, und die Fräse hatte bereits zu viel davon zerstört, als daß er es wirklich erkennen konnte, aber es war da gewesen. Ein geometrisches Muster, das zugleich zu regelmäßig wie auch wieder nicht gleichmäßig genug war, um von der Hand der Natur zu stammen. Und je mehr er sich umsah, desto mehr von dieser bizarren, indigoblauen Malerei entdeckte er: hier weitere Linien, dort etwas, das wie Runen aussah, zugleich aber auch völlig anders, da ein Muster aus Schlangenlinien, das sich mit einem Teil des Bildes vereinigen wollte, das der Fräse zum Opfer gefallen war. Die einzelnen Linien waren zu dünn, wie mit einem feinen Bleistift gemalt, als daß man sie auf Anhieb hätte sehen können, aber wenn man erst einmal anfing, danach zu suchen, konnte man die Augen vor dem Bild nicht mehr verschließen: jemand hatte quer über die Wand ein kompliziertes Muster gemalt. An einer Stelle, die noch niemals ein Mensch hatte betreten können.

Die Hysterie war wieder da, begleitet von ihrem Bruder, der Panik, und Warstein war viel zu schockiert, um noch einmal dagegen ankämpfen zu können. Er hatte recht gehabt! In diesem Berg war etwas! Etwas Böses, etwas unvorstellbar Gefährliches, etwas, das viel älter als die Menschen, vielleicht so alt wie diese Welt war, und sie hatten es geweckt, und jetzt war es frei und zornig, und sie alle würden einen schrecklichen Preis für ihren Frevel zahlen müssen! Noch vor Tagesfrist hätte er laut über solche Gedanken gelacht, aber jetzt, angesichts der reglos dastehenden Riesenmaschine, des Lichtes, des Schweigens und dieser unheimlichen Linien und Muster - des Siegels, das sie gebrochen hatten! - begriff er zum ersten Mal im Leben, daß es Dinge geben mochte, die mit den Mitteln der Wissenschaft und Logik nicht zu erklären waren. Mächte, die älter als der Mensch und seine vermeintlich allmächtige Wissenschaft waren, und ungleich mächtiger. Diese Linien bewiesen es. Linien, die eindeutig von Menschenhand geschaffen waren, aber ebenso eindeutig war, daß noch niemals ein Mensch an dieser Stelle gewesen sein konnte, denn sie lag hinter fünf Kilometern Granitgestein verborgen, und...

Vielleicht war es pure Selbstverteidigung, daß sein Verstand schließlich doch eine Erklärung fand, die es ihm ermöglichte, nicht an dem Anblick zu zerbrechen. Plötzlich lachte er, laut und schrill, ein Geräusch, das von den Felswänden aufgefangen und verzerrt zurückgeworfen wurde und selbst in seinen eigenen Ohren verdächtig nach einem Schrei klang. Aber es war die einzige Erklärung, die überhaupt möglich war.

Jemand war hier gewesen. Gestern abend, nach dem Ende der letzten Schicht. Anders als gewöhnlich hatten sie in dieser Nacht nicht durchgearbeitet, sondern die Fräse abgeschaltet, um einige dringend notwendige Reparaturen an der Elektronik durchführen zu können. Jemand mochte sich hereingeschlichen und unbemerkt von allen diese Linien auf die Wand gemalt haben. Unter anderen Umständen hätte Warstein diese Erklärung sofort als das entlarvt, was sie war: nämlich kaum glaubhaft. Die Reparaturen hatten die ganze Nacht gedauert. Ein Trupp von zehn Technikern und mindestens noch einmal soviel Begleitpersonal war hier gewesen, die Arbeiten waren nahtlos fortgesetzt worden, kaum daß die Fräse wieder lief; jede Stunde, die das Gerät stillstand, kostete die Gesellschaft ein kleines Vermögen.

Aber solche Feinheiten waren ihm jetzt gleich. Es war die einzige Erklärung, und so mußte es gewesen sein. Wie es der unbekannte Graffiti-Künstler fertiggebracht hatte, sein Werk unter den Augen von zwanzig Zuschauern zu vollenden, ohne daß irgend jemandem etwas auffiel, darum konnte er sich später kümmern. Vielleicht war es sogar einer der Techniker selbst gewesen. Warstein wußte, daß ein paar von ihnen über einen reichlich bizarren Humor verfügten; unterbezahlte junge Intellektuelle, denen auch durchaus zuzutrauen gewesen wäre, Kreise in die Felder argloser Kornbauern zu trampeln.

Er beruhigte sich nur langsam wieder. Trotzdem kehrten seine Gedanken nach einer Weile zu dem eigentlichen Grund seines Hierseins zurück - den Männern des Bautrupps. So seltsam diese Zeichnung war, sie erklärte nicht im mindesten, was mit den Männern geschehen war. Sie waren eindeutig nicht hier. Der Grund, weswegen sie nicht auf Frankes Anrufe reagiert hatten, war kein defektes Funkgerät - sie waren einfach nicht mehr da.

Wieder begann sich ein unheimliches, unwirkliches Gefühl in Warstein breitzumachen. Gegen seinen Willen suchte sein Blick wieder das zerbrochene Linienmuster auf der Wand, und jetzt, als er einmal wußte, daß es da war, entdeckte er immer mehr Details. Nichts davon ähnelte irgend etwas, das er jemals gesehen hätte, aber er empfand ein schwer zu bestimmendes Gefühl der Bedrohung, je länger er es ansah. Vielleicht war es auch eine Warnung. Was auch immer - es war zu intensiv, um es zu ignorieren.

Rasch wandte er den Blick wieder ab und ging einige Meter zurück, bis er die Leiter zum Führerhaus erreichte. Die Fräse verfügte über eine eigene Sprechverbindung nach draußen. Vielleicht funktionierte sie ja noch.

Warstein kletterte die Leiter hinauf, zog den Kopf ein, um sich nicht an den Stahlplatten zu stoßen, die die Fahrerkabine abschirmten, und streckte die Hand nach dem Telefonhörer auf der linken Seite des komplizierten Armaturenbrettes aus.

Er führte die Bewegung nicht zu Ende.

Für die nächsten zehn Sekunden tat er gar nichts, außer dazustehen und aus aufgerissenen Augen in den Tunnel auf der anderen Seite der Fräse zu starren. Da waren sie. Die ganzen fünfundzwanzig Mann. Trupp neunzehn war nicht verschwunden. Die Männer saßen auf der anderen Seite der Maschine im Kreis auf dem Boden, hatten sich an den Händen ergriffen und saßen vollkommen reglos und mit gesenkten Köpfen da.

Eine Spinne aus Eis mit mindestens zweihundert Beinen schien langsam Warsteins Rücken hinaufzukriechen. Seine Haut fühlte sich an wie elektrisiert. Atem und Herzschlag gehorchten ihm nicht mehr. Der Anblick war fast mehr, als er jetzt noch verkraften konnte.

Schon unter normalen Umständen wäre er absurd gewesen. Die Männer saßen im Kreis und schienen zu meditieren oder zu beten. Sie schliefen nicht, wie er rasch erkannte. Manchmal regte sich eine der Gestalten, und wenn er ganz genau hinhörte, dann konnte er ein sonderbares Summen und Intonieren wahrnehmen. Es war leise, gerade noch an der Grenze des überhaupt noch Hörbaren, aber es war wie mit dem Bild an der Wand: nachdem er es einmal registriert hatte, konnte er die Ohren davor nicht mehr verschließen, und auch in diesem unheimlichen Singsang waren ein System und eine Ordnung, die er nicht zu erkennen vermochte, aber auch nicht übersah. Und da war etwas Gemeinsames. Die blauen Linien und der geflüsterte Gesang korrespondierten miteinander, auf eine Weise, die ihm angst machte.

Sehr viel Zeit verging, in der Warstein nur dastand und auf den Kreis aus fünfundzwanzig Männern herabblickte, bis er endlich die Kontrolle zuerst über seinen Willen und dann über seinen Körper zurückfand.

Unendlich langsam und auf zitternden Knien begann er die Leiter auf der anderen Seite der Fräse hinabzusteigen. Er gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sein, aber die Männer schienen den Lärm, den er verursachte, nicht wahrzunehmen. Keiner von ihnen sah auf, keiner ließ seinen Nachbarn los oder hielt gar mit seinem unheimlichen Gesang inne. Es vergingen nur wenige Momente, bis Warstein den Kreis erreicht hatte und wieder stehenblieb.