»Und was ist schiefgegangen?« fragte Rogler.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Lensing.
Rogler vermied es nachzuhaken. Die Draisine fuhr zwar mit deutlich weniger als dreihundert Stundenkilometern, aber sie würden trotzdem in wenigen Minuten am Unfallort sein - oder was immer geschehen war.
»Er sollte um 12.20h in Ascona eintreffen«, fuhr Lensing fort. »Sie hatten einen großen Bahnhof vorbereitet -«, er lächelte flüchtig über das Wortspiel, wurde aber sofort wieder ernst, als Rogler nicht darauf reagierte, »- aber der Zug kam nicht. Also haben sie versucht, ihn anzurufen. Als auch darauf keine Reaktion erfolgte, haben sie wohl einen Suchtrupp losgeschickt. Aber das ist nur das, was ich gehört habe.« Rogler sah ihn zweifelnd an, wodurch Lensing sich zu einem übertriebenen Kopfnicken genötigt fühlte. »Es ist so«, sagte er. »Ich habe den Zug bisher nicht einmal gesehen. Sie lassen niemanden an ihn ran. Ich fürchte, den letzten halben Kilometer werden sie zu Fuß gehen müssen.«
Rogler hatte genug Erfahrung im Umgang mit Lügnern, um zu wissen, wann jemand die Wahrheit sagte und wann nicht. Lensing sagte die Wahrheit - und wenn Roglers Gefühl ihm dies nicht schon bestätigt hätte, so wären der endgültige Beweis vielleicht die verstohlenen Blicke gewesen, die ihm der Mann an den Kontrollen der Draisine zuwarf. Die beiden wußten tatsächlich nichts; und sie platzten geradezu vor Neugier. Daher also die Enttäuschung in Lensings Worten. Statt ihm endlich sagen zu können, warum er eigentlich hier war, hatten sie gehofft, es von ihm zu erfahren.
»Sie sind von der Polizei in Zürich?« fragte Lensing unvermittelt.
»Bellinzona«, verbesserte ihn Rogler. »Aber sonst stimmt's, ja. Warum?«
»Es muß schon etwas verdammt Wichtiges sein, wenn sie einen Kriminalbeamten aus der Stadt kommen lassen«, sagte Lensing.
»Ich bin zufällig hier«, erinnerte ihn Rogler. »Eigentlich wollte ich hier nur Urlaub machen.« Ihm fiel zu spät ein, daß das dem Gedankenfluß, der offenbar hinter Lensings Stirn in Gang gekommen war, höchstens noch zusätzliche Nahrung gab. Die örtliche Polizei war zwar hauptsächlich auf Trickbetrüger, Taschendiebe und Heiratsschwindler spezialisiert und was sich sonst noch an einschlägigen ›Berufsgruppen‹ in einer Fremdenverkehrsmetropole wie Ascona herumtrieb. Aber auch sie überlegte es sich sicher dreimal, einen Mann wie ihn aus dem Urlaub zu holen und um Hilfe zu bitten. Es sei denn, irgend jemand hatte ihr befohlen, es zu tun.
»Vielleicht eine Bombendrohung oder ein Attentat?« vermutete Lensing. »Diese Terroristen schrecken ja heutzutage vor nichts zurück.«
»Vielleicht«, antwortete Rogler einsilbig. Er ersparte es sich, Lensing darüber aufzuklären, daß es sich ganz bestimmt nicht um einen terroristischen Akt handelte - in diesem Fall hätte man nicht ihn geholt. Allerdings ertappte er sich gleichzeitig dabei, mittlerweile wirklich neugierig auf das zu sein, was sie in der Dunkelheit dort vorne erwarten mochte. Vielleicht waren die Geschichten von Polizisten im Urlaub doch nicht ganz so an den Haaren herbeigezogen, wie er bisher angenommen hatte.
»Ist es noch weit?« fragte er.
»Zwei Kilometer«, antwortete Lensing. »Noch ein paar Minuten. Sehen Sie - dort vorne ist es schon.«
Rogler blickte in die Richtung, in die Lensing überflüssigerweise mit der Taschenlampe wies. Vor ihnen war es nicht mehr dunkel - was aber nicht hieß, daß er irgendwelche Einzelheiten erkennen konnte. Rogler erblickte ein Durcheinander aus tintenschwarzen, rechteckigen Schlagschatten und grellem Licht. Nach der fast vollkommenen Dunkelheit, die während der Fahrt und vorher geherrscht hatte, erschien es Rogler doppelt grell, so daß ihm Tränen in die Augen schossen.
Er wischte sie hastig fort und zwang sich, direkt in die blendende Helligkeit hineinzusehen; allerdings ohne Erfolg. Erst, als die Draisine langsamer wurde und das Hindernis näher kam, erkannte er, warum das so war: der liegengebliebene Zug wurde von mehreren großen Scheinwerfern angestrahlt, aber mindestens einer davon war herumgedreht worden, so daß sein Licht in den Tunnel fiel und eine undurchdringliche Barriere für neugierige Blicke bildete. Das Fahrzeug rollte aus, und Rogler sprang herunter, noch bevor es ganz zum Halten gekommen war. Lensing hatte nicht übertrieben. Sie hatten einen guten halben Kilometer vor dem Zug angehalten, und das Gehen auf dem mit grobem Schotter bestreuten Gleis erwies sich als äußerst mühsam. Er war noch immer so gut wie blind, aber er hörte jetzt Geräusche. Menschliche Laute und Maschinengeräusche: ein elektrisches Summen, das rhythmische Tuckern mehrerer Dieselmotoren, das Geräusch einer Kreissäge, vielleicht auch einer Schleifhexe. Irgendwo lief ein großer Kompressor.
Roglers Erregung wuchs. Seine Erfahrung in solcherlei Dingen beschränkte sich zwar - wie die der meisten Menschen - auf entsprechende Bilder in den Fernsehnachrichten oder Szenen aus einschlägigen Filmen, doch eines war trotzdem völlig klar: hier fand eine Bergung statt. Es konnte sich allerdings nicht um einen gewöhnlichen Unfall handeln, denn dann hätte man ihn nicht gerufen. Die ganze Geschichte wurde immer geheimnisvoller.
Er passierte die Lichtbarriere, konnte aber immer noch nicht viel erkennen; seine Augen waren geblendet, und etwas Großes, Rechteckiges verwehrte ihm den direkten Blick auf den Zug. Ein verschwommener Schatten trat ihm entgegen und zerfiel dann zu drei kleineren, einzelnen Umrissen.
»Kommissar Rogler, nehme ich an?«
Das beste wird sein, dachte Rogler gereizt, ich lasse es mir auf die Stirn tätowieren. In Leuchtbuchstaben, weil es hier drinnen so dunkel ist. »Sie nehmen richtig an. Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Er wartete voller Ungeduld darauf, daß sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse anpaßten, aber es ging nur sehr langsam, so daß er das Aussehen der drei anderen im ersten Moment mehr erriet als erkannte und es ihm einigermaßen schwer fiel, die Namen den passenden Gesichtern zuzuordnen. Es kostete ihn den letzten Rest seiner ohnehin überstrapazierten Geduld, die Vorstellung über sich ergehen zu lassen.
Der Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte, war allerhöchstens halb so alt wie er, aber ein wahrer Riese mit den Schultern eines Preisboxers und Händen, die aussahen, als zerbrächen sie manchmal zum Zeitvertreib Schaufelstiele. Er trug einen offenbar maßgeschneiderten grauen Anzug, der für diese Umgebung erstens völlig unpassend und zweitens viel zu dünn war. Er stellte sich als Horst Brenner vor und nannte irgendeinen Rang bei der staatlichen Eisenbahnbehörde, den Rogler sofort wieder vergaß, auch wenn er ihn angesichts von Brenners Alter ein wenig überraschte.
Auch die beiden anderen waren auf die gleiche, völlig unpassende Weise gekleidet: der, den Brenner als seinen Vorgesetzten und Kollegen Kurt Machen vorstellte, in einen Anzug, der offensichtlich vom gleichen Schneider stammte wie sein eigener, nur teurer war, der dritte Mann, ein gewisser Dr. Franke, über dessen Bedeutung sich Brenner vielsagend ausschwieg, sogar in Smoking, Rüschenhemd und Fliege. Da alle drei vor Kälte bibberten, ihre Gesichter hinter grauen Dampfschwaden verschwanden, immer wenn sie ausatmeten, und ihre Anzüge reichlich mitgenommen aussahen, wirkten sie in ihrem Aufzug ziemlich lächerlich. Sie mußten wohl zu dem ›großen Bahnhof‹ gehören, von dem Lensing gesprochen hatte.
»Also was ist passiert?« fragte Rogler mit einer Geste nach vorne, in die noch immer nicht klare Helligkeit hinein. Es lag nicht nur an seinen Augen, daß er den Zug nicht genau erkennen konnte. Unmittelbar vor dem ICE hatte ein dunkelrot lackierter S-Bahn-Triebwagen angehalten, so daß nur die äußeren Umrisse des viel größeren Schnellzuges zu erkennen waren. Davor und daneben bewegten sich Menschen: Polizisten, Feuerwehrleute, aber auch eine Menge Zivilisten in der gleichen, deplacierten Kleidung wie Brenner und seine beiden Begleiter.