Aus der Nähe betrachtet wirkte der Anblick der Männer noch furchteinflößender. Ihre Gesichter waren leer, ihre Züge schlaff, die Augen, soweit sie sie überhaupt geöffnet hatten, glanzlos und trüb. Keiner von ihnen schien Warstein auch nur wahrzunehmen.
Warstein streckte die Hand aus, um eine der Gestalten zu berühren, wagte es dann aber doch nicht. Etwas Sonderbares umgab die Männer. Nichts, was ihm angst gemacht oder ihn beunruhigt hätte. Es war etwas ... ja, etwas fast Heiliges. Es war nicht richtig, sie zu berühren, sie bei dem zu stören, was sie taten. So trat er wieder einen Schritt zurück und ließ seinen Blick ein zweites Mal und aufmerksamer über die Gesichter der fünfundzwanzig Männer gleiten.
Der Ausdruck darauf war nicht überall gleich, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Viele von ihnen waren leer, schlaff wie die von Schlafenden oder Männern in Trance, doch auf manchen waren auch die Spuren starker Gefühle zu erkennen - Erregung, Freude, Verzückung, aber auch so etwas wie Furcht, ja, hier und da vielleicht sogar etwas wie Entsetzen. Und sie hielten sich auch nicht unentwegt an den Händen. Manchmal ließ einer seinen Nachbarn los und zeichnete mit den Fingern komplizierte Muster in die Luft, und jetzt entdeckte Warstein auch, daß einige Männer etwas vor sich auf den Boden gemalt hatten. Neugierig trat er näher, beugte sich über eine der Gestalten, die mit den Fingern ein Muster aus roten, ineinanderlaufenden Linien vor sich auf den Stein zeichnete - und fuhr entsetzt zusammen.
Der Mann hatte keinen Stift. Was er für rote Farbe gehalten hatte, war Blut. Der Mann hatte so lange mit den Fingerspitzen Muster auf den rauhen Stein gemalt, bis seine Haut zu bluten begonnen hatte. Er mußte unerträgliche Schmerzen haben, und ganz offensichtlich spürte er sie auch, denn sein Gesicht war zu einer Grimasse der Qual geworden. Trotzdem hielt er nicht darin inne, Linien und Kreise auf den Stein zu zeichnen.
»Um Gottes Willen!« keuchte Warstein. »Hören Sie auf! Was tun Sie denn da?« Er vergaß seinen Schrecken, und er vergaß auch das Gefühl von Ehrfurcht, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Er sah nur die blutigen Fingerspitzen des Mannes, durch die hier und da bereits der weiße Knochen hindurchschimmerte, und das furchtbare rote Gemälde auf dem Boden. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung riß er den Mann zurück und halb auf die Füße. Im allerersten Moment versuchte sich dieser schwächlich zur Wehr zu setzen. Er schlug nach Warstein, aber der Hieb war so unkonzentriert und fahrig, daß er auch nicht getroffen hätte, wäre er nicht ausgewichen. Der zweite Schlag streifte seine Wange und hinterließ einen Streifen unangenehmer, klebriger Wärme auf seiner Haut, und während Warstein angeekelt zurücktaumelte, begriff er seinen Irrtum: Der Mann versuchte nicht, sich zu wehren. Seine Finger zeichneten einfach weiter jene komplizierten Muster und Linien in die Luft, die sie bisher auf dem Felsen hinterlassen hatten.
Warstein ergriff den Mann bei den Schultern und schüttelte ihn so wild, daß sein Kopf von einer Seite auf die andere schlug und seine Zähne dabei klapperten. »Wachen Sie auf!« schrie er. »Verdammt noch mal, wachen Sie endlich auf!« Er hatte selbst nicht damit gerechnet - aber seine Worte zeigten Wirkung. Ein Ausdruck tiefster Verwirrung erschien in den Augen des Mannes. Einige Sekunden lang stand er einfach da, so verstört wie nur irgend jemand, den Warstein in seinem Leben gesehen hatte, und sein Blick war der eines Kindes, das aus einem bösen Traum erwacht und sich an einem völlig fremden, angstmachenden Ort befindet. Seine Lippen begannen zu zittern. Er wich einen Schritt vor Warstein zurück, als dieser ihn losließ, dann hob er die Hände und sah auf seine blutigen Fingerspitzen herab. Der Anblick schien den Bann endgültig zu brechen. Wimmernd vor Schmerz und Schrecken stolperte er weiter zurück, bis er gegen die Flanke der Steinfräse prallte und langsam daran zu Boden glitt.
Warstein fuhr herum und war mit einem Satz bei einem zweiten Mann. Auch er war bereits wieder einer Panik nahe. Er hatte recht gehabt. Irgend etwas Unvorstellbares war hier im Gange. Nicht alle Männer hatten sich auf so furchtbare Weise selbst verstümmelt, sondern nur vier oder fünf. Aber vielleicht war der Schrecken, den er sehen konnte, sogar der kleinere. Wenn er jetzt aufhörte, würde er einfach schreiend davonlaufen und erst stehenbleiben, nachdem er das Ende des Tunnels erreicht hatte. Mit einem schon fast brutalen Ruck zerrte er einen zweiten Mann in die Höhe und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der Mann schien den Hieb gar nicht zu spüren, doch er erzielte die erhoffte Wirkung. Warstein konnte sehen, wie der unheimliche Bann auch von ihm abfiel. Er brach nicht zusammen, wie sein Kamerad, aber er begann gellend und ausdauernd zu schreien, als er die Hände vor das Gesicht hob und sah, was er sich selbst angetan hatte.
Warstein zerrte einen dritten Mann in die Höhe, und als er schließlich beim fünften angekommen war, da konnte er fast körperlich fühlen, wie der Bann brach. Irgend etwas löste sich unsichtbar und schwer vom Kreis der Männer und floh zurück in die dunklen Nischen des Kosmos, aus denen es hervorgekrochen war.
Im gleichen Moment änderte sich das Licht. Das unheimliche, milde Leuchten erlosch und machte dem harten Schein künstlichen Lichtes Platz. Die Lampen unter der Tunneldecke brannten wieder, als wären sie niemals ausgefallen, und auch die meisten Helmscheinwerfer der Männer glommen auf wie kleine, glühende Augen in der Mitte ihrer Stirn. Warstein registrierte es jedoch nur am Rande, denn rings um ihn herum erwachten nun auch die übrigen zwanzig Männer aus ihrer Trance. Es war kein angenehmes Erwachen. Einige brachen einfach zusammen. Andere begannen, je nach Temperament, zu schreien oder auch zu weinen, aber alle wirkten auf die gleiche, schreckliche Weise desorientiert wie der erste Mann, den er aus seiner Trance gerissen hatte. Und plötzlich waren da noch andere Geräusche. Schritte. Rufen und Schreien, ein Poltern und Schleifen, die Laute brummender Maschinen und piepsender Elektronik.
Warstein griff sich den erstbesten Mann, der ihm unter die Finger geriet und schüttelte ihn wild. »Was ist hier passiert?« schrie er ihn an. »Was zum Teufel ist hier los? Reden Sie!«
Ebensogut hätte er den Berg anschreien können. Der Mann hörte seine Worte, aber sein Blick machte deutlich, daß er nicht einmal verstand, was sie bedeuteten.
Warstein wandte sich wieder einem der Verletzten zu. Der Mann krümmte sich neben der Fräse am Boden und preßte beide Hände gegen die Brust. Warstein sah voller Schrecken, wie stark seine Finger plötzlich bluteten. Er kniete neben dem Mann nieder, aber er wagte es nicht, ihn zu berühren. Er konnte nichts für ihn tun, geschweige denn ihm helfen. »Einen Verbandskasten!« rief er. »Ich brauche Verbandsstoff, schnell!«
Tatsächlich drückte ihm jemand das Gewünschte in die Hand, und Warstein hatte den Kasten bereits halb geöffnet und ein Päckchen mit Verbandsmull aufgerissen, bevor ihm klar wurde, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er überhaupt damit anfangen sollte. Das einzige Mal, daß er so ein Ding in der Hand gehabt hatte, war während des Erste-Hilfe-Kursus zu seinem Führerschein gewesen - und das war zwölf Jahre her. Außerdem hatte er seine Samariter-Künste an einer Gummipuppe ausprobiert.
Das hier war keine Gummipuppe. Das war ein lebender Mensch, der vor seinen Augen zu verbluten drohte. Was um Gottes willen sollte er nur tun?
Jemand berührte ihn unsanft an der Schulter, und Warstein reagierte ebenso grob und übertrieben, indem er herum- und zugleich in die Höhe fuhr und die Hand beiseite schlug. Erst dann blickte er in das Gesicht des Mannes, der ihn angefaßt hatte. Es war Franke. »Warstein!« schnappte er. »Wo zum Teufel sind -«