»Jetzt nicht«, unterbrach ihn Warstein. Er war viel zu aufgeregt, um sich länger als einen Sekundenbruchteil zu fragen, wo Franke so plötzlich herkam. »Ich brauche Ihre Hilfe!«
»Jetzt nicht?« wiederholte Franke. Seine Augen wurden groß und seine Stimme klang, als träfe ihn jeden Moment der Schlag. »Sind Sie verrückt geworden, Warstein? Sie waren mehr als -«
Warstein explodierte. »Verdammt noch mal, halten Sie endlich das Maul!« brüllte er. »Der Mann verblutet, sehen Sie das vielleicht nicht?!«
Frankes Reaktion überraschte ihn. Der Zorn, den er erwartete, flammte tief in seinen Augen auf, aber statt ebenfalls zu explodieren, drehte er sich zu dem Verletzten herum und ließ sich in die Hocke sinken. Sein Gesicht verlor jede Farbe. Soweit das überhaupt möglich war, war er wohl noch weniger in der Lage, dem Mann zu helfen. Aber er versuchte es auch erst gar nicht. Statt dessen stand er nach einer Sekunde wieder auf und winkte jemanden herbei, der offensichtlich in seiner Begleitung gekommen war. Zu den Männern von Trupp neunzehn gehörte er jedenfalls nicht.
Genaugenommen war es überhaupt niemand, den Warstein kannte. Und es war längst nicht der einzige. Was um alles in der Welt ging hier vor?
Warstein sah sich mit einer Mischung aus Schrecken und wachsender Verwirrung um, während Franke dem Fremden knapp, aber erstaunlich präzise Anweisungen zu geben begann, wie mit den Verletzten zu verfahren sei. Außer Franke waren plötzlich mindestens zwei Dutzend weiterer Männer da, von denen er kaum die Hälfte kannte. Einige von ihnen trugen die Uniformen der Schweizer Kantonspolizei. Viele waren in die orangeroten Overalls der Arbeiter hier gekleidet, obwohl sie eindeutig nicht zu ihnen gehörten, einige - wie Franke - waren auch in Zivil. An der Fräse waren gleich drei der kleinen Wagen aufgefahren, einer davon hoch beladen mit Kisten und Werkzeugcontainern. Eine Anzahl großer Scheinwerfer tauchte jeden Zentimeter des Tunnels in gleißende Helligkeit. Überall waren hektische Bewegung und Aufregung. Vor kaum einer Minute war hier noch kein Mensch gewesen; jetzt wimmelte der Stollen von Leben und Hektik.
»Also gut, sehen Sie zu, daß die Männer schnellstens ins Krankenhaus kommen.« Franke beendete seine Anweisungen mit einer entsprechenden Geste. »Am besten alle. Die anderen machen auch keinen besonders guten Eindruck. Und halten Sie um Himmels willen diese Reporter von den Männern fern.« Reporter? dachte Warstein. Irgend etwas stimmte hier nicht, aber er war plötzlich nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Der Boden unter seinen Füßen begann sich zu drehen.
»Reporter?« wiederholte er laut.
Franke ignorierte die Frage. »Die Männer werden versorgt«, sagte er. »Ich habe einen Hubschrauber angefordert, der die Schwerverletzten ins Krankenhaus bringt. Was ist mit Ihnen? Sie sehen auch nicht besonders gut aus.«
»Ich bin in Ordnung«, sagte Warstein, obwohl er sich im Grunde zum Heulen fühlte - und das in jeder Beziehung. Aber er würde einfach den Verstand verlieren, wenn er nicht bald ein paar Antworten bekam.
»Dann können Sie mir ja sicher ein paar Fragen beantworten«, sagte Franke. Er hörte sich an, als beherrsche er sich mittlerweile nur noch mit allerletzter Kraft. »Zum Beispiel die, wo Sie waren.«
»Ich?« Warstein verstand nicht einmal, wovon Franke überhaupt sprach. »Aber das wissen Sie doch. Sie haben mich doch selbst hierher geschickt!«
»Das habe ich«, bestätigte Franke. Der Ausdruck in seinen Augen war inzwischen kein purer Zorn mehr. Warstein hatte das Gefühl, einer Atommine mit scharfem Zünder gegenüberzustehen. Irgend etwas hinderte Franke noch daran, zu explodieren, aber es fehlte nur noch eine Winzigkeit. Ein falscher Blick mochte genügen, eine falsche Antwort auf jeden Fall.
»Das habe ich«, sagte Franke noch einmal, als Warstein nicht antwortete, sondern ihn nur weiter verwirrt ansah. »Vor zwei Tagen.«
Warstein blinzelte. »Wie?«
»Um präzise zu sein...« Franke schob den Ärmel hoch und sah auf die Uhr, »...vor genau einundfünfzig Stunden und vierzig Minuten.«
4
»Ist Ihnen eigentlich klar, dass wir hier ein Verbrechen begehen?« fragte Rogler. Er hatte seine Stimme absichtlich so gesenkt, daß sie gerade noch über einem Flüstern lag, obwohl kaum die Gefahr bestand, daß jemand sie belauschte. Es war wenige Minuten nach sechs. Der Frühstücksraum des Hotels war noch leer, abgesehen von einer verschlafen wirkenden Bedienung, die vor dem Büffet am anderen Ende des großen Zimmers stand und versuchte, nicht wieder einzuschlafen, während sie auf ihre Wünsche wartete.
»Sie übertreiben, wie üblich«, antwortete Franke mit einem Lächeln. Er nippte an seinem Kaffee, stellte die Tasse mit einer fast behutsamen Bewegung zurück und maß die Auswahl von Wurst- und Käsesorten auf der Platte vor sich mit dem Kennerblick eines Gourmets. In Anbetracht der frühen Stunde, fand Rogler, sah er geradezu unverschämt frisch und fröhlich aus. Dabei hatte er in der vergangenen Nacht allerhöchstens vier Stunden geschlafen - wie übrigens auch in der Nacht davor und in der davor.
»Ich weiß nicht, worüber Sie sich so aufregen, mein lieber Freund«, fuhr er fort, während er eine Scheibe Schwarzbrot dünn mit Butter bestrich und dann sorgsam drei verschiedene Wurstsorten darauf drapierte. »Sie haben allen Grund, zufrieden zu sein.«
»Womit?« fragte Rogler. »Mit dem Wissen, die ganze Welt an der Nase herumzuführen? Damit, daß ich Dutzende von Kollegen, die wirklich Besseres zu tun hätten, seit einer Woche damit beschäftige, Gespenster zu jagen?«
»So würde ich das nicht bezeichnen«, widersprach Franke. Er biß in sein Brot und schloß genießerisch die Augen, während er kaute. »Köstlich. Ihr Schweizer versteht etwas vom Essen, das muß man euch lassen. Und um auf Ihre Gespenster zurückzukommen: immerhin haben Sie und Ihre Kollegen in der letzten Woche mehrere seit Jahren gesuchte Kriminelle gefaßt, die hier in der Gegend untergetaucht waren. Von den gut zwei Dutzend kleineren Fischen ganz zu schweigen.«
»Sie wissen genau, was ich meine«, antwortete Rogler ärgerlich. »Es ist die Aufgabe der Polizei, Verbrechen zu verhindern oder aufzuklären. Nicht, welche zu konstruieren. Ich halte seit einer Woche fünfzig der besten Polizisten dieses Landes auf Trab - und Sie und ich, wir wissen ganz genau, daß die Terroristen, die sie jagen, überhaupt nicht existieren.«
»Aber ich habe Ihnen doch erklärt, warum wir das tun müssen«, seufzte Franke. »Wollten Sie der Öffentlichkeit wirklich die Wahrheit sagen? Wollen Sie ihnen tatsächlich erklären, daß wir keine Ahnung haben, was dem Zug in Wahrheit zugestoßen ist? Und daß wir nicht einmal garantieren können, daß es sich nicht wiederholt - vielleicht an einem anderen Ort und schlimmer?« Er schüttelte den Kopf, biß erneut in sein Brot und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. »Glauben Sie mir, mein Freund, gegen die Panik, die dann ausbrechen würde, sind die paar verlorenen Arbeitsstunden Ihrer Kollegen ein Witz.«
Rogler schluckte seinen Ärger mühsam herunter. Er wußte gar nicht, was ihn mehr wurmte - der Umstand, daß Franke im Grunde recht hatte, oder der, daß er sich seit einer Woche einen Spaß daraus machte, ihn herumzukommandieren wie ein Lehrer einen Erstklässler, den er aufs Korn genommen hatte. Und dabei war Franke nicht einmal Schweizer.
Als er an jenem Tag vor nunmehr einer guten Woche ins Hotel zurückgekehrt war, da hatte er tatsächlich ein Schriftstück seiner vorgesetzten Dienststelle vorgefunden, die bestätigte, daß er Frankes Anweisungen in diesem Fall uneingeschränkt und ohne zu fragen Folge zu leisten hatte. Es war niemals Roglers Art gewesen, Befehlen blind zu gehorchen, ohne sich nach ihrem Sinn zu erkundigen. Er hatte es auch in diesem Fall versucht - und sich hinterher beinahe gewünscht, es nicht getan zu haben. Nachdem er fünf verschiedenen Leuten offenbar schmerzhaft genug auf die Zehen getreten war, hatte plötzlich das Telefon bei ihm geklingelt, und nach diesem Anruf war Rogler klar gewesen, daß Frankes Vollmachten tatsächlich absolut zu sein schienen. Wenn er von ihm verlangt hätte, auf einem Bein zweimal um den Lago Maggiore herum zu hüpfen, dann hätte er auch das tun müssen. Ohne zu fragen, warum. »Es gefällt mir trotzdem nicht«, maulte Rogler.