»Niemand verlangt von Ihnen, daß es Ihnen gefällt«, erwiderte Franke lächelnd. »Tun Sie Ihre Arbeit weiter so gut wie bisher, und wir sind alle zufrieden. Sehen Sie es von der positiven Seite: Sie haben endlich Gelegenheit, sich all der Subjekte zu entledigen, die Ihr wunderschönes Land zu nichts anderem mißbrauchen, als sich dem Zugriff ihrer heimatlichen Justizbehörden zu entziehen. Ich dachte immer, Polizisten wünschen sich eine solche Chance.«
»Das tun sie auch«, sagte Rogler. »Aber nicht für diesen Preis.«
Franke belegte sich ein zweites Brot und begann es mit ebenso großem Appetit wie das erste zu verzehren.
Rogler sah ihm eine Weile dabei zu, dann sagte er: »Bevor ich Sie frage, warum Sie hierher gekommen sind - wir hatten einen Handel, erinnern Sie sich?«
Franke zog fragend die linke Augenbraue hoch und kaute unbeeindruckt weiter.
»Sie haben mir versprochen, mir zu erzählen, was Sie herausfinden.«
»Sobald wir etwas herausgefunden haben, richtig«, bestätigte Franke. »Aber das ist noch nicht der Fall.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?« Rogler machte eine Geste zum Fenster, das durch Zufall so lag, daß der Blick tatsächlich direkt auf den Gridone fiel. »Sie und Ihre Kollegen nehmen diesen Berg seit einer Woche Zentimeter für Zentimeter auseinander, und Sie haben noch nichts herausgefunden?«
»Eher Millimeter für Millimeter«, verbesserte ihn Franke und schüttelte abermals den Kopf. »Wir haben bisher tatsächlich nichts gefunden. Einige Anhaltspunkte, die meine erste Theorie zu bestätigen scheinen, aber noch nichts Konkretes.«
»Ich bin es gewohnt, mit Anhaltspunkten zu leben«, sagte Rogler gereizt.
Sein unübersehbarer Ärger schien Franke eher zu amüsieren. »Es scheint sich um eine Art ... Gravitationsanomalie zu handeln«, sagte er. »Mehr weiß ich auch noch nicht.«
»Gravitationsanomalie?« wiederholte Rogler. Anders als Franke anzunehmen schien, hatte er zumindest eine ungefähre Vorstellung, was er sich unter diesem Wort zu denken hatte. »Und was hat das mit dem zu tun, was dem Zug zugestoßen ist?«
»Wenn ich das wüßte, säße ich nicht hier, um zu frühstücken«, antwortete Franke lächelnd, »sondern wäre auf dem Weg nach Stockholm, um den Nobelpreis entgegenzunehmen.« Er wedelte mit seiner Kaffeetasse. »Glauben Sie nicht, daß ich kein Verständnis für Sie hätte, Herr Rogler. Ich weiß, daß der Druck, den die Öffentlichkeit auf Sie ausübt, ungeheuer sein muß. Aber Sie können sicher sein, daß die Art, in der Sie Ihre Arbeit tun, sehr aufmerksam beobachtet wird. Und daß es sich für Sie lohnt. Wenn das hier vorbei ist, werden Sie nie wieder kleine Trickbetrüger und Taschendiebe jagen müssen, das kann ich Ihnen versprechen.«
Eigentlich hätte Rogler nun schon wieder zornig werden müssen. Wenn es etwas gab, was ihn noch mehr in Rage brachte als der Versuch, ihn unter Druck zu setzen, dann war es der, ihn zu bestechen. Aber er schluckte seinen Ärger auch diesmal wieder herunter. Er würde herausfinden, was in diesem Berg wirklich vorging, und wenn Franke glaubte, es für alle Ewigkeiten vor ihm geheimhalten zu können, dann hatte er keine Ahnung, wozu ein Polizist, der sich einmal in einen Fall verbissen hatte, wirklich in der Lage war. Er hatte - selbstverständlich ohne Frankes Wissen - schon längst begonnen, Erkundigungen über ihn und vor allem den Berg einzuziehen, und er hatte ein paar Dinge herausgefunden, über die Franke bestimmt nicht sehr glücklich gewesen wäre.
»Wie lange soll ich dieses Theater noch aufrechterhalten?«
»Um diesen Punkt zu klären, bin ich gekommen«, antwortete Franke. Er schenkte sich Kaffee nach und sah dabei auf die Uhr. »In einer Stunde holt mich ein Helikopter ab, der mich nach Genf bringt. Ich muß dort mit einigen Leuten reden. Ich weiß noch nicht genau, wann ich zurückkomme. Möglicherweise erst in ein paar Tagen. So lange werden Sie den Laden hier wohl oder übel allein schmeißen müssen.« Als ob ich das nicht die ganze Zeit über getan hätte, dachte Rogler verärgert. »Ich fürchte, wir müssen unser kleines Spiel noch einige Tage aufrechterhalten«, fuhr Franke fort. »Vielleicht noch eine Woche, möglicherweise sogar zwei.«
»Eine Woche!« krächzte Rogler. »Sind Sie verrückt geworden?«
»Vielleicht sogar länger«, sagte Franke noch einmal und vollkommen unbeeindruckt. Rogler starrte ihn nur an. Die sogenannte Sondereinheit, die er leitete, hatte auf Frankes Befehl hin schon jetzt die halbe Region lahmgelegt. Der Ausfall der Eisenbahnstrecke hatte ohnehin dafür gesorgt, daß Ascona und die nördliche Seite des Lago Maggiore nahezu im Chaos versunken waren, und was der Verkehr nicht schaffte, das taten Straßensperren, Polizeikontrollen und unerwartete Razzien in Hotels und Vergnügungsbetrieben, die sie fast regelmäßig durchgeführt hatten. Für Rogler war dies ein weiterer Beweis, daß es sich bei den Ereignissen im Gridone um mehr als eine Gravitationsanomalie handelte, wie Franke behauptete. Aber er wußte auch, daß er diese Farce nicht beliebig lange spielen konnte. Schon jetzt war jeder dritte Hotelgast in Ascona ein Journalist. Und wenn es eine Spezies auf diesem Planeten gab, die noch hartnäckiger als Polizeibeamte war, dann waren es Reporter, die eine Sensation witterten. Die Gerüchte, die Rogler gehört hatte, reichten von der Aufdeckung einer Verschwörung gegen die Schweizer Regierung bis hin zur Landung Außerirdischer auf dem Gridone. Natürlich war nichts davon ernstzunehmen. Aber es gab dieses alte Sprichwort von dem blinden Huhn, und wenn hunderttausend blinde Hühner herumhackten, dann mußte eines von ihnen früher oder später das richtige Korn finden. Rogler verspürte wenig Lust, die Antwort auf all seine Fragen in irgendeinem Boulevardblatt zu lesen, während er selbst noch damit beschäftigt war, Terroristen zu jagen, die es gar nicht gab. Er wollte eine weitere Frage stellen, aber in diesem Moment drang ein leises, zweifaches Piepsen aus Frankes Jacke. Franke setzte die Kaffeetasse ab, griff in die Tasche und zog ein kleines, transportables Telefon heraus. Er klappte es auf, hielt es ans Ohr und meldete sich. Das Gespräch, das folgte, dauerte kaum eine Minute. Frankes Anteil daran bestand aus wenigen, knappen Worten, aber es war nicht zu übersehen, daß ihn das, was er hörte, überaus zu beunruhigen schien. Schließlich schaltete er das Gerät wieder ab und steckte es ein, ohne sich auch nur verabschiedet zu haben.
»Ich fürchte, ich muß meine Pläne ändern«, sagte er. »Ich hätte gerne noch in Ruhe mit Ihnen zu Ende gefrühstückt und das eine oder andere besprochen, aber das muß warten.«
»Ärger?« fragte Rogler. Er war selbst ein wenig erstaunt, wie schadenfroh seine Stimme klang, aber Franke nahm es gar nicht zur Kenntnis. Er wirkte mit einem Male sehr fahrig.
»Nicht direkt«, antwortete er. »Aber es könnte welcher daraus entstehen.« Er stand auf. »Sie halten sich bitte an unsere Absprache, bis ich zurück bin«, sagte er, wie Rogler fand, vollkommen unnötig. Er war mittlerweile fast sicher, daß ein Gutteil seiner aufgesetzten Arroganz keinen anderen Grund hatte als den, ihn zu demütigen. Franke war ein Mensch, der es genoß, Macht zu besitzen - und noch mehr, andere diese Macht spüren zu lassen.
Er ging, ohne sich zu verabschieden. Rogler wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Dann begann auch er zu frühstücken, und zu seiner eigenen Überraschung schmeckte es ihm sogar. Jetzt, wo Franke nicht mehr hier war, war auch sein Appetit zurückgekehrt.
Während der letzten zehn Minuten der Fahrt hatte Warstein innerlich Blut und Wasser geschwitzt, und seine Nervosität war mit jedem leisen Klacken gestiegen, mit dem der Taxameter um eine Ziffer weitersprang. Er hatte gewußt, daß der Franz-Josef-Strauß-Flughafen ein gutes Stück außerhalb der Stadt lag - aber nicht, wie weit wirklich. Und vor allem hatte er unterschätzt, wie sehr sich diese Entfernung auf dem Gebührenzähler eines Taxis niederschlägt. Die Anzeige näherte sich unerbittlich der magischen Vierundfünfzig-Mark-zwanzig-Grenze - magisch deshalb, weil dies genau die Summe war, die er in der Tasche hatte, nachdem er all seine Barschaft zusammengekratzt und jede einzelne Pfandflasche zurückgebracht hatte, die sich in seiner Wohnung fand. Er war sicher gewesen, damit zum Flughafen zu kommen und vielleicht sogar noch genug für ein Bier oder schlimmstenfalls einen Kaffee übrigzubehalten. Jetzt war er sicher, es nicht zu schaffen.