Er hätte auf seine innere Stimme hören sollen, dachte Warstein mißmutig, und Bergers Mappe samt jeder Erinnerung an sie und ihre Geschichte aus dem Fenster schmeißen. Laut genug war die Warnung schließlich gewesen. Wahrscheinlich hätte er es sogar getan, hätte der Zufall nicht seine Hand im Spiel gehabt - oder das, was er dafür hielt. Tief in sich hatte Warstein zwar schon zu diesem Zeitpunkt erkannt, daß es so etwas wie Zufall nicht gab, den Gedanken aber noch nicht weit genug verinnerlicht, um ihn wirklich zu akzeptieren.
Besagter Zufall hatte ihn ungefähr drei Stunden nach Bergers Weggang in Gestalt eines schmierigen kleinen Wiesels heimgesucht, das im Auftrag eines Inkassobüros an seine Tür hämmerte, um wieder einmal irgendwelche absurden Forderungen von seiner Exfrau geltend zu machen. Noch vor zwei Tagen hätte Warstein die darauf folgende häßliche Szene mit einem Achselzucken weggesteckt; schließlich hatte er genug Übung darin. Diesmal nicht. Der Geldeintreiber war wieder gegangen, wie all seine Kollegen vor ihm, und alle seine Drohungen hätten ihn im Grunde kaltlassen müssen - wer nichts hatte, dem konnte man nichts wegnehmen. Agnes wußte das so gut wie er. Schließlich hatte sie es oft genug versucht. Aber der Besuch hatte einen anderen, unerwarteten Effekt gehabt: er machte Warstein klar, daß Berger recht gehabt hatte. Sein Leben hatte sich in eine abwärts führende Schräge verwandelt, die kein Ende hatte, und die Fahrt darauf wurde immer schneller. Wenn es überhaupt noch einen Ausweg gab, dann war es ein Sprung zur Seite, ein Sprung über die Klippe und ins Ungewisse, der schlimmstenfalls auf die gleiche Weise enden konnte wie die Schußfahrt zuvor, nur etwas schneller. Berger hatte recht: er hatte nichts mehr zu verlieren. Gar nichts.
So hatte er schließlich noch einmal die Mappe mit den gesammelten Zeitungsausschnitten und Bemerkungen über den Gridone und die sonderbaren Vorfälle in seiner Umgebung aufgeschlagen, den Zettel mit ihrer Adresse herausgenommen, der auf der letzten Seite klebte, und sie von der Telefonzelle auf der anderen Straßenseite aus angerufen. Sie schien nicht einmal besonders überrascht. Vielleicht hatte sie damit gerechnet, daß er anrief. Sie hatten sich für den folgenden Morgen um halb sieben hier im Flughafen verabredet. Warstein hatte ganz automatisch zugesagt und sich ein bißchen zu spät daran erinnert, daß er kein Leben führte, in dem man eine solche Verabredung so ohne weiteres einhalten konnte. Doch der letzte Rest von Stolz, den er noch besaß, hatte ihn daran gehindert, sie ein zweites Mal anzurufen.
Warstein blickte wieder auf den Taxameter, stellte fest, daß die Anzeige die Fünfzig-Mark-Grenze überschritten hatte und beugte sich schweren Herzens vor, um dem Chauffeur auf die Schulter zu tippen. Ein Streit mit einem erbosten Taxifahrer, der sich um sein Fahrgeld geprellt fühlte, war das letzte, was er sich jetzt wünschte. »Sie können hier anhalten«, sagte er.
Der Fahrer tippte automatisch auf die Bremse und wollte den Blinker setzen, aber dann zog er die Hand wieder zurück und sah erst ihn, dann das schimmernde Stahl- und Glasgebirge des Flughafengebäudes in der Ferne an. Sie waren noch gute drei Kilometer davon entfernt, vielleicht weiter. »Sind Sie sicher?« fragte er. »Es ist nicht mehr weit, und...«
»Ich gehe den Rest zu Fuß«, sagte Warstein. »Ein bißchen frische Luft wird mir guttun. Es ist ein schöner Morgen.«
Der Taxifahrer maß ihn mit einem Blick, als zweifle er an seinem Verstand, lenkte den Wagen aber gehorsam an den rechten Straßenrand und beugte sich zur Seite, um den Taxameter abzuschalten. »Ganz wie Sie wollen«, sagte er. »Das macht zweiundfünfzigsechzig.«
Warstein zog sein Portemonnaie hervor, klaubte zwei zerknitterte Zehner heraus und begann das Silbergeld zu zählen, das die abgenutzte Geldbörse ausbeulte. Der Taxifahrer sah ihm einige Augenblicke kopfschüttelnd dabei zu, dann sagte er: »Ich verstehe. Es reicht nicht ganz, wie?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete Warstein. Die Situation war ihm peinlich, viel peinlicher, als er selbst verstand. Er war es seit ein paar Jahren gewöhnt, ein solches Leben zu führen.
»Wieviel haben Sie denn?« fragte der Fahrer.
»Jedenfalls nicht genug«, erwiderte Warstein ausweichend.
»Na gut. Dann schütten Sie das ganze Gerumpel auf den Beifahrersitz. Ich zähle es später nach.« Noch während Warstein darüber nachdachte, was er von diesen Worten zu halten hatte, ließ er den Motor wieder an, wartete eine Lücke im Verkehr ab und fuhr weiter.
»Aber ich kann Sie nicht...«, begann Warstein.
»Das müssen Sie auch nicht«, unterbrach ihn der Fahrer. »Die drei Kilometer bringen mich nicht um, wissen Sie. Und es tut gut, einen ehrlichen Menschen zu treffen.« Er lachte, als er Warsteins verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte. »Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, wie viele rein zufällig erst hinterher merken, daß sie zuwenig Geld eingesteckt haben. Außerdem hätte ich sowieso bis zum Flughafen weiterfahren müssen, um zu wenden.«
Zumindest das war eine glatte Lüge, aber eine, für die Warstein dem Mann sehr dankbar war.
Beinahe ebenso dankbar war er ihm dafür, daß sie auch den kurzen Rest der Fahrt ebenso schweigend zurücklegten und der Mann nicht versuchte, ihm ein Gespräch aufzudrängen; etwa mit der originellen Frage, ob er schon einmal bessere Zeiten erlebt hätte. Der Wagen fuhr vor einem der drei großen Haupteingänge vor, und Warstein bedankte sich mit einem stummen Händedruck bei seinem Wohltäter und stieg aus. Es war sehr warm, obwohl es noch früh war. Angesichts ihres Reisezieles hatte sich Warstein in einen Pullover und eine dicke Jacke gehüllt, aber nun begann er schon nach wenigen Augenblicken zu schwitzen. Sie hatten sich an keinem bestimmten Platz verabredet, was sich nun als Fehler zu erweisen schien. Mit Ausnahme seiner Bestimmung hatte der Franz-Josef-Strauß-Flughafen nichts mit seinem Vorgänger gemein. Er war mindestens doppelt so groß, und aus der anheimelnd kleinen, fast gemütlichen Halle war ein Labyrinth aus Glas, Marmor und verchromtem Stahl geworden, in dem es ihm unmöglich schien, einen einzelnen Menschen zu finden. Trotzdem mußte er nicht lange nach Berger suchen. Es verging nur eine kurze Zeit, bis er jemand seinen Namen rufen hörte. Als er sich herumdrehte, da sah er sie durch die Menschenmenge auf sich zuhasten. Sie trug das gleiche, helle Sommerkostüm wie am vergangenen Tag, und über die linke Schulter hatte sie eine leichte Reisetasche geworfen.
»Schön, daß Sie kommen«, sagte sie. »Ich hatte schon Sorge, daß Sie es sich doch noch anders überlegt haben könnten.«
»Der Weg war weiter, als ich dachte«, erwiderte Warstein verlegen. »Ich war noch nie hier. Ich bin früher nur von Riem aus geflogen.«
»Aber so lange ist das doch noch gar nicht...«, begann sie, brach ab und zuckte mit einem angedeuteten Lächeln die Schultern. »Stimmt, das hatte ich vergessen. Sie fliegen nicht gerne.«
»Sie wissen wirklich viel über mich«, sagte Warstein, der nicht ganz sicher war, ob ihm das gefiel.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß mein Mann ein großer Fan von Ihnen war.«
»Vermessungstechniker haben keine Fans«, sagte er ruhig. »Nicht einmal ich.« Ehe sie noch mehr sagen und die Situation womöglich noch peinlicher machen konnte, fragte er: »Wo ist Ihr Freund?«