»Lohmann?«
Warstein lauschte einen Moment in sich hinein, aber dieser Name sagte ihm nichts. Zumindest schien es keiner von denen zu sein, mit denen er damals zu tun gehabt hatte. »Der Reporter, ja.«
Berger drehte sich herum, suchte einen Moment und deutete dann irgendwo nach links in das Gewühl aus Menschen. »Er wartet dort hinten auf uns.« Sie zögerte. »Da ist noch etwas, was ich Ihnen nicht gesagt habe.«
»Und was?«
»Ich ... ich habe ihm erzählt, daß wir alte Freunde sind«, sagte Berger. »Ich dachte, das wäre besser.«
»Wieso?«
»Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, wäre er wahrscheinlich nicht mitgekommen«, gestand sie. »Ihr Name ... war ihm nicht ganz fremd, wissen Sie.«
»Alte Freunde, so?«
»Wir sollten uns duzen«, sagte sie. »Nennen Sie mich Angelika - oder meinetwegen Angy, wenn Ihnen das lieber ist.« Ihre Augenbrauen zogen sich in übertrieben gespieltem Zorn zusammen. »Aber bitte nicht Geli. Das tun mir nur Leute an, die mich hassen.«
Gegen seinen Willen mußte Warstein lachen. Er wußte, daß sie keine Chance hatten, mit diesem Theater länger als eine Stunde durchzukommen. Aber das spielte keine Rolle. Wenn sie erst einmal im Flugzeug saßen, war es gleich. »Nur, wenn Sie mich Frank nennen«, erwiderte er.
»Das möchte ich nicht«, sagte sie. »Mein Mann heißt so. Ich ... ich käme mir irgendwie komisch dabei vor.«
Warstein gefiel die ganze Farce immer weniger, aber auf der anderen Seite war sie es auch nicht wert, endlose Diskussionen darum zu führen. »Angelika, gut«, sagte er. Obwohl Angy kürzer gewesen wäre und ihr wahrscheinlich besser gefallen hätte. Aber er hatte schon immer etwas gegen die zunehmende Veramerikanisierung seiner Muttersprache gehabt, und er sah keinen Grund, jetzt damit anzufangen.
Sie durchquerten die Halle. Lohmann lehnte lässig an einer Bar in der Nähe der Abfertigungsschalter, und er war Warstein auf Anhieb unsympathisch, obwohl er ihn im ersten Moment nur von hinten sah. Er war ein schlanker, sehr großer Mann in einem abgetragenen Jeansanzug und ungeputzten Schuhen. Sein Haar war für die Länge, in der er es trug, nicht gut genug gepflegt, und an seiner linken Hand prangte ein geschmackloser Siegelring. Er trug eine Fototasche über der Schulter, und neben seinem rechten Fuß stand ein Samsonite-Koffer. Als Angelika und Warstein neben ihm anlangten, stellte er sein Bierglas aus der Hand und maß Warstein mit einem langen, nicht besonders angenehmen Blick von Kopf bis Fuß. Obwohl er lässig an der Bar lehnte, überragte er ihn immer noch fast um Haupteslänge, was seinen Blick beinahe noch verächtlicher erscheinen ließ. »Sie sind also Warstein«, sagte er schließlich. Eine sonderbare Art der Begrüßung. »Der berühmte Frank Warstein. Ich habe Bilder von Ihnen gesehen. Trotzdem hätte ich Sie mir anders vorgestellt.«
»Das ist einer Menge Kollegen von Ihnen auch passiert«, erwiderte Warstein. Er fing einen warnenden Blick Angelikas auf, aber es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Er war voreingenommen, was Journalisten anging, aber er war fast sicher, daß seine Vorurteile in diesem Fall zutrafen.
Lohmann lachte, aber Warstein sah ihm deutlich an, daß er die Worte sehr wohl genauso verstanden hatte, wie sie gemeint waren. Er mochte vielleicht unsympathisch sein, aber er war nicht dumm. »Jetzt, wo wir endlich alle zusammen sind, sollten wir aufbrechen«, sagte er. »Die Maschine startet in Kürze. Sie checken schon ein. Haben Sie Ihr Ticket?«
Bevor Warstein antworten konnte, öffnete Angelika ihre Handtasche und nahm eine Flugkarte heraus, die sie ihm reichte.
»Erster Klasse?« fragte er erstaunt.
»Geht alles auf Spesen«, sagte Lohmann. »Ich hoffe, der ganze Aufstand lohnt sich.«
Warstein verkniff es sich, darauf zu antworten. Er ergriff seinen Koffer, wartete, bis auch Lohmann und Angelika ihr Gepäck genommen hatten, und folgte den beiden.
Sie gehörten tatsächlich mit zu den letzten Passagieren, die an Bord gingen. Trotzdem betrat Warstein das Flugzeug sehr langsam und mit gemischten Gefühlen. Er war nie gerne geflogen, und der Weg über die Gangway war ihm noch nie so lang vorgekommen wie heute. Spätestens, wenn er den kunststoffüberdachten Tunnel hinter sich gebracht hatte und durch die Kabinentür trat, gab es kein Zurück mehr. Vorhin, unten in der Halle, auf dem Weg durch die Sicherheitskontrollen, ja, selbst jetzt noch, konnte er umkehren, sich einfach herumdrehen und nach Hause gehen, ganz egal, was Lohmann oder Angelika davon hielten. Er konnte sich immer noch einreden, daß es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen, und er im letzten Moment wieder zu klarem Verstand gelangt war. Wenn sie einmal in der Maschine saßen, einmal auf Schweizer Boden, ging das nicht mehr. Und er hatte vor nichts so sehr Angst wie davor, zum Gridone zurückzukehren. So wurden seine Schritte immer langsamer, und als er das kleine Rondell unmittelbar vor der Flugzeugtür betrat, blieb er vollends stehen. Lohmann, der vorausgeeilt war, bemerkte es gar nicht. Angelika blieb zwei Schritte vor ihm stehen und sah erschrocken zu ihm zurück. Sie sagte nichts, aber sie ahnte wohl, was in ihm vorging. Er sah eine der blau und weiß gekleideten Lufthansa-Stewardessen hinter ihr ungeduldig winken. Ihre fahrigen Gesten und ihr Blick straften ihr berufsmäßiges Lächeln Lügen, als sie sich an Angelika vorbeidrängte und auf ihn zutrat.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Warstein schüttelte stumm den Kopf. Er spürte ihren Blick und ahnte, welchen Eindruck er auf sie machen mußte. Er hatte seinen besten Anzug angezogen, aber auch sein bester Anzug war schäbig, und seinem Gesicht war das Leben, das er seit drei Jahren führte, deutlich anzusehen. Ihre Berufsauffassung verbot es ihr, sich irgend etwas anmerken zu lassen, aber Warstein hatte genug Erfahrung im Umgang mit Menschen wie ihr, um zu wissen, was sie wirklich von ihm hielt.
»Ist alles in Ordnung?« fragte sie.
»Sicher«, antwortete er. Er versuchte zu lächeln, aber er war nicht sicher, ob es ihm gelang. »Ich war nur...« Er zuckte hilflos mit den Achseln. »Ich fliege sehr selten, wissen Sie? Ich wollte den Moment genießen.«
»Das verstehe ich. Aber Sie müssen jetzt trotzdem einsteigen. Wir starten pünktlich.«
Warstein ging weiter, machte einen Schritt an ihr vorbei und dann einen zweiten, der ihn ins Innere der Maschine trug. Die Entscheidung war gefallen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Jetzt noch umzukehren, hätte wohl mehr Mut von ihm verlangt, als weiterzumachen.
Er steuerte den Sitz an, der auf seiner Bordkarte angegeben war, und genoß eine halbe Sekunde lang die erstaunten Blicke der Stewardeß, die ihn im Abteil der ersten Klasse Platz nehmen sah. Aber dieser kleine Triumph hielt gerade so lange, bis er in Lohmanns Gesicht sah und darauf die gleiche Mischung aus Verachtung und Hohn las wie schon unten in der Halle. Ihm war plötzlich klar, daß der Journalist ebenfalls eine Menge über ihn wußte; vermutlich mehr, als ihm recht war. Er fragte sich, ob von Angelika oder durch eigene Nachforschungen, und obwohl es eigentlich keinen Unterschied machte, wünschte er sich doch, daß letzteres der Fall sein möge. Wahrscheinlich war es auch so. Er war - wenn auch vor Jahren und wenn auch nicht sehr lange, so doch für eine Weile - eine Person des öffentlichen Interesses gewesen, und es fiel Männern wie Lohmann sicherlich nicht schwer, binnen kurzem alles über ihn in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte.
»Noch immer Angst vorm Fliegen?« fragte der Journalist spöttisch, als er ungeschickt und mit leicht zitternden Fingern versuchte, seinen Sicherheitsgurt zu schließen.
»Ein wenig«, antwortete er. »Manche Dinge ändern sich eben nie.«
»Oder haben Sie Angst davor, zurückzukehren?« fuhr Lohmann fort.
»Wenn ich die hätte, wäre ich nicht hier, oder?« erwiderte Warstein scharf. Seine Feindseligkeit prallte von dem Journalisten ab, ohne Spuren zu hinterlassen.
»Das wird sich zeigen«, antwortete er. »Ich bin jedenfalls gespannt, wie Ihr Freund Doktor Franke reagiert, wenn er Sie wiedersieht.«