»Ich habe nicht die Absicht, ihn zu treffen.« Es gelang Warstein nicht ganz, den Schrecken aus seiner Stimme zu verbannen. Das war etwas, woran er noch gar nicht gedacht hatte, obwohl es auf der Hand lag. Wenn tatsächlich mit dem Gridone etwas nicht stimmte, wenn der Zwischenfall von letzter Woche wirklich kein Terroranschlag gewesen war, dann würden sie Franke in Ascona treffen, so sicher, wie der Teufel in der Hölle wohnte.
»Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen«, sagte Lohmann. »Ich habe jedenfalls nicht vor, ihn ungeschoren davonkommen zu lassen. Nicht wenn das, was Ihre Freundin vermutet, die Wahrheit ist.«
»Was vermutet sie denn?« erkundigte sich Warstein kühl.
Lohmanns Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben, und sein Grinsen wirkte plötzlich nicht mehr ganz so überheblich wie noch vor einer Sekunde. Er setzte zu einer Antwort an, und Warstein war sicher, daß seine nächsten Worte ihm bereits Anlaß gegeben hätten, schon jetzt den Streit vom Zaun zu brechen, auf den er tief in sich schon vom ersten Moment an ausgewesen war. Er wußte, daß er dem Journalisten gegenüber nicht fair war. Ganz egal, was er von Reportern hielt und welche Erfahrungen er mit ihnen auch gemacht hatte, sie waren nicht alle gleich. Aber er hatte nie vorgehabt, ihm eine faire Chance einzuräumen. Die Stewardeß kam und überzeugte sich davon, daß sie vorschriftsmäßig angeschnallt waren, und ihr Erscheinen erstickte den drohenden Streit im Keim. Für diesmal. Nachdem sie gegangen war, drehte Warstein demonstrativ den Kopf zur Seite und tat so, als sähe er konzentriert aus dem Fenster. Lohmann war klug genug, es dabei zu belassen. Vielleicht hatte er wenigstens für die Dauer des Fluges noch seine Ruhe.
Die Kabinentüren schlossen sich auf die Sekunde pünktlich, und aus dem bisherigen fernen Rauschen der Motoren wurde ein mächtiges Grollen, als sich der Airbus in Bewegung setzte und langsam auf die Startbahn hinausrollte. Warsteins Nervosität stieg, und obwohl sie jetzt eine Furcht war, die er kannte und von der er auch wußte, daß sie ebenso irrational wie unbegründet war, half ihm dieses Wissen kein bißchen, damit fertig zu werden.
Er hatte immer Angst vor dem Fliegen gehabt, schon seit er das erste Mal einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt hatte. Er kannte all die kleinen psychologischen Tricks, die einem angeblich helfen, sie zu überwinden oder wenigstens zu mildern, aber bei ihm hatten sie nicht funktioniert; kein einziger davon. Selbst die zurückliegenden drei Jahre, in denen er einem Flugzeug nicht einmal nahegekommen war, hatten daran nichts geändert, sondern schienen es im Gegenteil eher schlimmer gemacht zu haben.
»Nervös?«
Warstein wandte den Blick zur Seite und begegnete Angelikas Lächeln. Es war völlig anders als das Lohmanns. Statt Überheblichkeit und Häme erkannte er darin nur den Versuch, ihm irgendwie zu helfen - oder wenn das schon nicht gelang, ihn wenigstens abzulenken.
»Ein bißchen«, gestand er.
»Dann solltest du nicht aus dem Fenster sehen«, sagte sie. »Warum machst du nicht einfach die Augen zu und stellst dir vor, in einem Bus zu sitzen?«
»Die Psychologen raten das genaue Gegenteil«, erwiderte Warstein. »Außerdem würde es nichts nutzen. Die Vorstellung, in einem Bus zu sitzen, der mit achthundert Stundenkilometern zehntausend Meter hoch durch die Luft rast, beruhigt mich nicht unbedingt.«
Sie blinzelte verdutzt, bis ihr klar wurde, daß er einen Scherz gemacht hatte, dann lachte sie, ein bißchen zu laut und ein wenig gekünstelt, aber es tat trotzdem gut. Es war lange her, daß es ihm gelungen war, jemanden zum Lachen zu bringen.
Die Maschine hatte die Startbahn erreicht, vollführte eine halbe Kehre und wurde schneller. Der schwarze Asphalt begann vor den Fenstern zu verschwimmen, und das Dröhnen der Turbinen wurde noch lauter. Warsteins Hände wurden feucht. Er klammerte sich mit aller Kraft an die Armlehnen, und sein Herz begann zu rasen. Das Flugzeug beschleunigte immer mehr und mehr und hob schließlich ab, kurz bevor es das Ende der Startbahn erreicht hatte. Die Landschaft stürzte unter ihnen in die Tiefe, dann kippte der ganze Himmel vor der Maschine zur Seite. Das Schicksal meinte es ausnahmsweise einmal gut mit Warstein. Er sah auf dieser Seite nicht, wie der Flughafen unter ihnen zusammenschrumpfte, sondern erkannte nur das strahlende Blau eines Firmaments, an dem sich nicht die winzigste Wolke zeigte. Als der Airbus weit genug in die Höhe geklettert war und wieder in waagerechten Flug überging, war die Welt unter ihnen bereits zu einem Muster aus ineinanderfließendem Grün und Braun geworden, das zu tief unter ihnen lag, als daß die rasende Geschwindigkeit noch sichtbar gewesen wäre. Warstein atmete vorsichtig auf. Um seine Flugangst zu überwinden, hatte er alles über Flugzeuge und das Fliegen gelesen, dessen er habhaft werden konnte, aber das hatte sich im nachhinein als Fehler herausgestellt. Das Wissen, daß der Start die mit Abstand gefährlichste Phase eines Fluges war, machte es nicht unbedingt leichter, ihn zu ertragen.
Obwohl das BITTE-ANSCHNALLEN-Licht über ihren Sitzen noch brannte, löste Lohmann plötzlich seinen Gurt, stand auf und nahm auf dem gegenüberliegenden Sitz Platz. »Nur zur Sicherheit«, sagte er, als er Warsteins fragenden Blick bemerkte. »Ich denke, es ist besser, wenn ich euch zwei Turteltauben im Auge behalte.«
»Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?« fragte Angelika feindselig.
»Auf meiner«, erwiderte Lohmann gelassen. »Immerhin kostet mich dieser Spaß eine Menge Geld. Und wenn er sich als Reinfall erweisen sollte, nicht nur das. Mein Chefredakteur war nicht besonders begeistert, als ich ihm von der Geschichte erzählt habe, das können Sie sich vielleicht vorstellen.«
»Sie haben ihm davon erzählt?« fragte Angelika erschrocken.
»Was denken Sie? Daß ich ein paar tausend Mark an Spesen und eine Woche Arbeitszeit einfach so riskieren kann? Wachen Sie auf, Schätzchen. So läuft es vielleicht in einer billigen amerikanischen Fernsehserie, aber nicht in Wirklichkeit.«
»Dann hören Sie auch endlich auf, sich so zu benehmen«, sagte Warstein.
»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute von Ihnen höre«, antwortete Lohmann. Irgend etwas war mit ihm geschehen, seit sie das Flugzeug betreten hatten. Warstein gestand sich verwirrt ein, daß er Lohmann bisher entweder unter- oder völlig falsch eingeschätzt hatte. Er wirkte noch immer ein bißchen überheblich und arrogant, aber plötzlich sehr viel aufmerksamer und wacher als bisher.
»Also gut, ihr beiden. Die Falle ist zugeschnappt. Die Kiste rollt, dann können wir auch anfangen zu arbeiten. Wie wär's, wenn wir es zur Abwechslung einmal mit der Wahrheit versuchten?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie wäre es zum Beispiel damit«, fragte Lohmann. »Wie lange kennt ihr zwei euch schon? Einen Tag oder zwei?«
Falls es ein Schuß ins Blaue war, dann war es ein Volltreffer. Angelika fuhr so sichtbar zusammen, daß Lohmann schon hätte blind sein müssen, um es nicht zu sehen. Sie brauchte nur eine Sekunde, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte, aber in dieser einen Sekunde sah sie so schuldbewußt aus, wie es nur möglich war.
»Unsinn«, sagte sie. »Wir -«
»Seit gestern«, sagte Warstein ruhig. »Woran haben Sie's gemerkt?«
»Ich wußte es schon vorher«, behauptete Lohmann. Warstein glaubte ihm. »Ihre kleine Freundin muß noch eine Menge lernen, zum Beispiel, daß es ziemlich schwer ist, einen Profi auf seinem eigenen Gebiet zu schlagen.«
»Einen professionellen Lügner, meinen Sie?«
»Sagen wir, jemanden, der davon lebt, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden.« Lohmann lachte. »Ich sehe schon, wir verstehen uns. Wenn wir nicht aufpassen, dann werden wir am Schluß noch richtig dicke Freunde.«
»Die Gefahr besteht kaum«, murmelte Warstein.
»Wenn Sie mir nicht geglaubt haben, wieso sind wir dann überhaupt hier?« fragte Angelika.
»Weil Sie mich brauchen. Schätzchen«, antwortete Lohmann. »Sie haben jemanden gesucht, der Ihnen den Flug in die Schweiz bezahlt, nicht wahr? Und Ihnen in Ascona vielleicht hilft, die eine oder andere Schwierigkeit zu überwinden.«