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»Und warum wollen Sie das tun?«

»Weil er dich braucht«, antwortete Warstein an Lohmanns Stelle. Angelika sah ihn verwirrt an, und Warstein fuhr mit nun kaum noch verhohlener Feindseligkeit in der Stimme fort: »Ohne dich wäre er nicht an mich herangekommen. Das ist doch so, oder?«

»Stimmt«, gestand Lohmann ungerührt. »Allerdings nur zum Teil. Ich habe die Geschichte mit den verschwundenen Männern überprüft. Sie scheint zu stimmen. Zwei von denen, die damals dabei waren, sind mittlerweile tot. Ein dritter hatte einen Unfall und sitzt vom Hals an abwärts gelähmt im Rollstuhl. Aber die anderen sind vor einer Woche alle spurlos verschwunden. Wenn das kein Grund für mich ist, der Sache nachzugehen...«

»Und Sie denken, ich wüßte, wo sie sind?«

»Sie waren damals dabei, oder?«

»Ja. Aber ich weiß sowenig wie Sie, was passiert ist.«

»Sehen Sie«, sagte Lohmann ruhig, »und genau das glaube ich Ihnen nicht.« Er hob die Hand, als Warstein auffahren wollte. »Verstehen Sie mich nicht falsch - ich denke nicht, daß Sie lügen. Ich hatte zwar mit der Berichterstattung damals nichts zu tun, aber ich habe die Geschichte ziemlich aufmerksam verfolgt. Irgend etwas ist damals passiert, und wenn es jemanden gibt, der herausfinden kann, was, dann sind Sie es. Ich möchte dabei sein, wenn das passiert.«

Vielleicht solltest du dir das nicht wünschen, dachte Warstein. Lohmanns Worte hatten irgend etwas in ihm berührt. Er wußte nicht, was, aber es war die gleiche Saite, die auch Angelika angeschlagen hatte, die gleiche verschüttete Erinnerung, die er vielleicht aus dem einzigen Grund nicht greifen konnte, weil er es immer noch nicht wirklich wollte. Er widersprach dem Journalisten nicht mehr, sondern lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück und schloß die Augen. Als Lohmann ihn das nächste Mal ansprach, tat er so, als wäre er eingeschlafen. Der Aufstieg hatte sicherlich nicht das Letzte von ihm verlangt, aber doch eine Menge mehr an Kraft, als er vorher geglaubt hatte.

Tausendfünfhundert Meter, das hörte sich nicht überwältigend an, und die Strecke hatte auch nicht besonders weit ausgesehen, auf der Karte, die Hartmann ihm gezeigt hatte. Der Gridone - vielleicht mit Ausnahme der Gipfelregion - war sicherlich kein Berg, der irgendeine Art von Herausforderung für einen geübten Alpinisten dargestellt hätte. Selbst ein trainierter Wanderer wäre vor dem Weg hier herauf nicht zurückgeschreckt. Aber Warstein war weder das eine noch das andere. Er hatte die letzten beiden Jahre fast ausschließlich hinter seinen Computern und am Schreibtisch verbracht, und jede einzelne dieser Stunden hatte sich auf dem Weg hier herauf gerächt. Ihm waren bereits auf der halben Strecke Zweifel gekommen, ob es tatsächlich eine so kluge Idee war, hierher zu gehen. Mittlerweile waren die Zweifel verschwunden. Er wußte, daß es eine Schnapsidee gewesen war. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihm weh, seine Glieder fühlten sich an, als wären sie mit kleinen Bleikügelchen gefüllt. Und dabei hatten sie den ganzen Rückweg noch vor sich.

Warstein sah voller Neid zu Hartmann hoch, der zehn Meter vor ihm ging. Der grauhaarige Sicherheitsbeamte war alt genug, um sein Vater zu sein. Wenn er sich nicht im Dienst befand, dann bestand seine Lieblingsbeschäftigung darin, die verschiedenen Schweizer Biersorten durchzuprobieren und miteinander zu vergleichen. Außerdem war er Kettenraucher. Und trotzdem besaß er die Unverfrorenheit, nicht einmal eine Spur von Erschöpfung zu zeigen. Ganz im Gegenteil blieb er nur immer öfter stehen, damit Warstein nicht den Anschluß verlor und der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde. Warstein fragte sich, woher zum Teufel der Mann diese Energie nahm.

»Ist es noch weit?« fragte er keuchend, als Hartmann wieder einmal stehenblieb und, auf seinen Spazierstock gestützt, darauf wartete, daß er zu ihm aufschloß. Hartmann zog eine Karte aus der Jacke, faltete sie auseinander und sah sich aufmerksam in der Runde um, ehe er den Kopf schüttelte. Warstein war es ein Rätsel, was er auf dieser Karte erkannte. Für ihn sah jeder Meter hier aus wie der andere. Den markierten Weg, der bis an die Schneegrenze hinaufreichte, hatten sie schon vor einer Stunde verlassen.

»Nein. Eigentlich müßten wir schon da sein.«

»Sind Sie sicher, daß die Beschreibung stimmt?« Warstein dachte voller Wehmut an den kleinen Helikopter, der zum Fahrzeugpark der Baustelle gehörte. Mit der Maschine wäre es ein Hüpfer von zehn Minuten hier herauf gewesen. Aber nach allem, was er über den eigenartigen Kauz namens Saruter gehört hatte, hätten sie ihn garantiert vertrieben, wären sie mit dem lärmenden Ungeheuer geflogen. Außerdem hätte er Frankes Zustimmung gebraucht, um den Hubschrauber zu benutzen.

»Ganz sicher«, bestätigte Hartmann. »Ich war selbst noch nicht hier, aber unten im Dorf kennt ihn jeder. Wahrscheinlich hat er uns längst bemerkt und beobachtet uns.« Er warf einen langen Blick in die Runde, und sein Ausdruck war dabei der eines Kavallerie-Scouts, der genau weiß, daß er von den Apachen beschlichen wird, sie aber einfach nicht sehen kann.

»Gehen wir weiter«, seufzte Warstein. Es war ein Fehler gewesen, überhaupt stehenzubleiben, das sah er jetzt ein. Wenn man so erschöpft war wie er, dann kostete das Weitergehen solche Überwindung, daß es den kleinen Kraftgewinn durch die Pause wieder aufzehrte.

Hartmann schien Schwierigkeiten zu haben, seine Karte wieder zusammenzufalten. Für einen Moment kämpfte er fluchend mit einem Wust von Papier, der alles mögliche tat, nur nicht das, was er wollte, dann plötzlich legte sich das Blatt wie durch Zauberei zusammen und verschwand in seiner Jackentasche. »Scheißtechnik«, maulte er. »Warum kann der Kerl nicht in einer ganz normalen Straße in der Stadt leben, wie jeder andere vernünftige Mensch?« Warstein war nicht ganz sicher, ob dieser Tadel nicht ihm galt, deshalb zog er es vor, nichts dazu zu sagen. Hartmann würde sich hüten, ihn offen zu kritisieren, aber natürlich war ihm klar, wie wenig Hartmann insgeheim davon hielt, Saruter zu besuchen. Er hatte die Vernehmungsprotokolle wieder und wieder gelesen. Hartmann hatte seine Arbeit sehr gründlich getan; es gab nicht mehr viel, was er Saruter fragen konnte. Jedenfalls nichts, was den Weg hier herauf auch nur im entferntesten gerechtfertigt hätte.

Aber er war im Grunde auch nicht hier, um Saruter Fragen zu stellen. Das konnten Hartmann und seine Leute - und im Zweifelsfall die Polizei von Ascona - besser als er. Warstein hatte den verrückten Einsiedler nicht vergessen, obwohl es mehr als zwei Wochen her war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte - weder ihn noch die unheimliche Art, auf die er ihn angestarrt hatte, bevor er den Tunnel betrat. Und das war der eigentliche Grund, warum er und Hartmann jetzt hier waren. Natürlich hatte er mit niemandem über seinen Verdacht reden können, aber tief in sich wußte er, daß Saruter mehr über die unheimlichen Geschehnisse in diesem Berg wußte als sie alle zusammen.

»Ich glaube, da vorne ist es.« Hartmann hob die linke Hand über das Gesicht, um die Augen zu beschatten und deutete mit der anderen nach vorn. Warsteins Blick folgte der Bewegung, aber es dauerte fast eine Minute, bis er sah, was Hartmann entdeckt hatte, denn erstens war das, was er mit da vorne bezeichnet hatte, noch gute anderthalb Kilometer entfernt, und zweitens war die kleine Berghütte so von Moos und anderen Kriechgewächsen überwuchert, daß sie praktisch unsichtbar wurde. Selbst bei genauerem Hinsehen konnte man kaum sagen, wo der Fels, gegen den sie gelehnt war, begann und Holz und Dachpfannen endeten. Sie war nicht besonders groß und verfügte nur über ein Fenster. Aus dem mit groben Schindeln gedeckten Dach streckte sich ein gedrungener Kamin hervor. Die Hütte selbst bestand aus versetzt angeordneten, mindestens dreißig Zentimeter dicken Baumstämmen, deren Fugen mit Mörtel verschmiert waren.