»Interessant«, sagte Hartmann. Er war neben ihn getreten und folgte dem wandernden Lichtstrahl. »Was mag das sein?«
»Es ist das gleiche wie...« Warstein sprach nicht weiter. Um ein Haar hätte er gesagt: wie unten am Vortrieb. Aber das hätte wenig Sinn gehabt. Niemand außer ihm hatte die Linien im Fels gesehen. Und als er nach einer Woche in den Berg zurückgekehrt war, da waren sie natürlich verschwunden gewesen; samt der Felswand, auf der sie sich befunden hatten.
»Wie was?« fragte Hartmann.
»Nichts«, antwortete Warstein. »Ich dachte, es würde mich an etwas erinnern. Aber ich habe mich getäuscht.«
»Es sieht irgendwie magisch aus«, sagte Hartmann.
»Magisch?« Warstein fragte sich selbst, warum er beim Klang dieses Wortes eigentlich so erschrak. »Wie meinen Sie das?«
»Na ja, wie diese Felsbilder, die man manchmal sieht.« Hartmann machte eine ebenso komplizierte wie sinnlose Geste, von der er wohl glaubte, sie passe zu diesem Begriff. »Bilder, wie sie diese Medizinmänner malen. Sie wissen schon. Schamanen und so.«
»Ich verstehe«, sagte Warstein. Hartmanns Erklärung machte es nicht besser. Plötzlich spürte er das gleiche, irrationale Unbehagen wie vor zwei Wochen im Tunnel.
Hartmanns Interesse an der Zeichnung erlahmte ebenso rasch, wie es gekommen war. Er ließ Warstein wieder allein, und nur einen Moment später verrieten eindeutige Geräusche, daß er offensichtlich dabei war, die Hütte zu durchsuchen. Warstein gefiel das nicht, aber er war vom Anblick der Zeichnung immer noch viel zu fasziniert, um sich davon losreißen zu können. Das Bild war viel kleiner als das unten im Berg, aber vielleicht gerade deshalb um so faszinierender. Die Linien waren auf eine kaum in Worte zu fassende Weise gewunden und gedreht. Wenn man lange genug hinsah, dann schienen sie sich zu bewegen. Und wenn man zu lange hinsah, bekam man Kopfschmerzen. »Das ist ja ein Ding«, sagte Hartmann hinter ihm. »Ein Einsiedler mit einem Farbfernseher!«
»Ja, aber ich benutze ihn selten. Batterien sind teuer, und hier oben nicht leicht zu bekommen.«
Warstein und Hartmann drehten sich im gleichen Moment zur Tür; Hartmann sehr viel schneller und so hastig, daß er irgend etwas umwarf, das klappernd zu Boden fiel. Das Geräusch verriet, daß es nicht zerbrach.
Er hatte nicht einmal gemerkt, daß die Tür aufgegangen war - was möglicherweise daran lag, daß die Gestalt, die im Rahmen erschienen war, ihn fast vollkommen ausfüllte. Warstein konnte Saruter nur als Schatten erkennen, aber der Umriß, den er sah, war nicht der eines alten Mannes. Es war schwer, das Alter eines Menschen zu erraten, dessen Gesicht man nicht erkennen konnte, aber hätte irgend jemand ihm erzählt, daß das da vor ihm der Schatten eines Achtzigjährigen sei, hätte er lauthals gelacht.
»Stellen Sie das hin, Sie ungeschickter Mensch«, sagte Saruter. Es klang nicht einmal wirklich erbost. »Oder nein, lassen Sie es. Es ist besser, wenn Sie nichts mehr anfassen.«
»Es tut mir leid«, sagte Hartmann verlegen. »Bitte entschuldigen Sie unser Eindringen. Aber die Tür war offen, und -«
»Ich brauche keine Schlösser«, unterbrach ihn Saruter. »Wer hier heraufkommt, ist entweder ein Freund oder in Not. Es wäre ein Verbrechen, die Tür zu verriegeln.« Er trat endlich vollends ein und schloß die Tür hinter sich, und im gleichen Moment wurde er auch optisch zu einem alten Mann. Das Zwielicht warf graue Schatten über sein Gesicht und ließ die zahllosen Runzeln und Falten darin noch tiefer erscheinen. Für eine Sekunde sah er nicht aus wie achtzig, sondern wie achthundert.
»Allerdings habe ich nicht mit Leuten wie Ihnen gerechnet«, fuhr Saruter fort. »Ist es da, wo Sie leben, üblich, in die Häuser anderer einzudringen und ihre Sachen zu durchwühlen?«
»Bitte, wir wollten Ihnen nicht zu nahe treten«, mischte sich Warstein ein. »Ich entschuldige mich für -«
Er verstummte, als Saruter sich herumdrehte und ihn zum ersten Mal direkt ansah. Seine Augen. Jetzt wußte er, was es ihm vom ersten Moment an so schwer gemacht hatte, seinen Blick zu ertragen. Es waren seine Augen. Etwas damit. Etwas darin.
»Ich wußte, daß du kommst«, sagte Saruter. »Ich wußte nicht wann, aber ich wußte, daß du kommen würdest.«
Warstein war ihm nie so nahe gewesen, und er dankte Gott dafür. Was aus der Entfernung unangenehm war, war aus der Nähe beinahe unerträglich. Seine Kehle war plötzlich so trocken, daß er keinen Laut hervorbrachte.
»Das war nicht besonders schwer zu erraten«, sagte Hartmann spöttisch. »Ich habe ihm gesagt, daß Sie mit ihm reden wollten.«
»Ich wollte zu dir kommen, aber sie haben mich nicht gelassen«, sagte Saruter.
»Stimmt das?« fragte Warstein.
»Er wollte mit Ihnen reden, aber sie waren noch im Krankenhaus. Als Sie zurückkamen, ergab sich keine Gelegenheit.«
Warstein konnte sich ungefähr denken, wer dafür verantwortlich war, daß sich keine Gelegenheit ergeben hatte, mit dem Einsiedler zu sprechen. Aber jetzt war wirklich nicht der Moment, sich über Franke zu ärgern. Außerdem: er war hier, oder?
»Es ist gut«, sagte Saruter. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Hartmann anzusehen. »Du hast deine Aufgabe erfüllt. Du kannst jetzt gehen.«
Hartmann war so verdutzt, daß er im allerersten Moment nicht einmal antworten konnte. Schließlich lachte er. »Mir ist bisher gar nicht aufgefallen, daß Sie so viel Humor haben. Ich werde ganz bestimmt nicht gehen und -«
»Tun Sie, was er sagt«, unterbrach ihn Warstein. »Gehen Sie zurück zur Baustelle.«
»Das meinen Sie nicht ernst«, protestierte Hartmann. Er deutete auf Saruter. »Überlegen Sie es sich. Ich habe ihn während des Verhörs ziemlich hart angefaßt, vielleicht hält er es für eine gute Gelegenheit, es Ihnen heimzuzahlen.« Warstein antwortete nicht einmal darauf. Wäre Saruter irgendein anderer gewesen als der, der er nun einmal war, hätte er Hartmanns Sorge durchaus verstanden; vielleicht sogar geteilt. Achtzig Jahre oder nicht, der Mann war ein Riese, und er war ganz bestimmt stärker als er, Warstein.
Trotzdem sagte er: »Es ist alles in Ordnung, Hartmann. Ich glaube kaum, daß Sie sich Sorgen machen müssen.«
Hartmann wechselte ein letztes Mal die Taktik. »Sie finden den Weg zurück allein doch gar nicht«, sagte er. »Und wenn es dunkel ist und Sie dann noch dort draußen sind...«
»Ich werde ihn zurückbringen«, sagte Saruter. »Und nun geh.«
»Ich denke nicht daran!« begehrte Hartmann auf. »Ich...«
»Bitte tun Sie, was er sagt«, fiel ihm Warstein ins Wort; nicht einmal sehr laut, aber doch in so nachdrücklichem Ton, daß Hartmann ihn einige Sekunden lang verdutzt ansah, ehe er überhaupt seine Fassung wiederfand.
»Ich bin für Ihre Sicherheit verantwortlich«, sagte er schließlich. Es klang nicht mehr sehr überzeugt.
»Wenn wir uns auf dem Gelände der Baustelle befinden, ja«, sagte Warstein. »Und wenn Sie im Dienst sind. Beides ist im Moment nicht der Fall.«
Hartmanns Lippen wurden zu einem blutleeren Strich in seinem Gesicht. Es tat ihm wahrscheinlich schon hundertmal leid, daß er Warstein hier heraufgeführt hatte, und Warstein seinerseits bedauerte, daß er so unwirsch zu ihm sein mußte. Er hoffte inständig, daß der Sicherheitsbeamte ihn nicht zwang, noch gröber zu werden.
Um die Situation ein bißchen zu entspannen, rang er sich ein Lächeln ab und sagte: »Gehen Sie ruhig. Keine Sorge - Franke erfährt kein Wort von mir.«
»Wenn Sie zurückkommen, ja.«
»Wenn ich nicht zurückkomme, kann ich es ihm auch nicht sagen, oder?« Hartmann sagte nichts mehr. Schweigend und mit abgehackten, übertrieben wuchtigen Bewegungen schulterte er seinen Rucksack und stiefelte hinaus, allerdings nicht, ohne Saruter einen so drohenden Blick zuzuwerfen, unter dem selbst die Eiskappe des Gridone geschmolzen wäre. Er verzichtete darauf, die Tür hinter sich zuzuknallen, als er ging - aber wahrscheinlich nur, weil sie dazu einfach zu schwer war.