Rogler begann auf den S-Bahn-Zug zuzugehen, ohne die Antwort auf seine Frage abzuwarten; er war auch sicher, daß er gar keine bekommen hätte. Und eine halbe Sekunde lang war er ebenfalls fast sicher, daß Brenner ihn aufhalten würde. Dann aber zuckte er nur andeutungsweise mit den Schultern und schloß sich ihm an. Die beiden anderen folgten ihm in geringem Abstand; allerdings erst, nachdem sie einen bezeichnenden Blick mit seinem hünenhaften Begleiter gewechselt hatten.
»Am besten, Sie sehen es sich selbst an.« Brenner antwortete schließlich doch, wenn auch mit gehöriger Verspätung und auf eine Art, die Rogler aufhorchen ließ.
»Ist es so schwer zu erklären?«
Brenner seufzte. »Tatsache ist, wir wissen es nicht«, sagte er.
»Ich habe auch keine detaillierte Erklärung erwartet«, sagte Rogler geduldig. »Ein kleiner Tip würde mir schon reichen. Ein Unfall, technisches Versagen, eine Entfüh...« Sie hatten den Triebwagen erreicht. Brenner trat vom Gleis herunter und einen Schritt zur Seite, und Rogler, der die Bewegung mitmachte, blieb der Rest seiner Frage im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.
Der ICE stand, von einem Dutzend großer Scheinwerfer in schon fast unangenehm helles Licht getaucht, zwanzig oder dreißig Meter hinter dem Triebwagen. Eine nicht näher zu schätzende, aber große Anzahl von Menschen bewegte sich rings um ihn herum, die meisten in den schweren Lederjacken und Helmen der Feuerwehr, und viele mit schwerem Gerät ausgestattet, wie man es bei der Bergung eines verunglückten Fahrzeuges wie diesem benötigte. Weiter hinten am Heck des ICE stoben blaue Funken hoch, begleitet vom schrillen Kreischen einer Trennscheibe, Befehle wurden gerufen, ein hektisches Hämmern und Klingen erfüllte den Tunnel, und es roch nach verbranntem Metall und durchgeschmorten Isolationen. Ein zweiter Triebwagen hatte auf dem Nebengleis angehalten, und aus den offenstehenden Türen luden Feuerwehrleute Kisten mit Werkzeugen und Material; andere trugen in weiße Tücher gehüllte Körper aus dem ICE heraus und verluden sie im hinteren Teil des kleineren Zuges. Rogler mußte nicht unter diese Tücher sehen, um zu wissen, was sie verhüllten. Ein bitterer Geschmack begann sich in seinem Mund auszubreiten. »Wie viele sind tot?« fragte er.
»Alle, fürchte ich. Wir haben noch nicht alle Leichen geborgen, aber es gibt wohl keine Chance, daß wir noch Überlebende finden. Vierunddreißig, Passagiere und Zugpersonal zusammengerechnet.« Es war nicht Brenner, der antwortete, sondern der Mann im Smoking, der Rogler als Dr. Franke vorgestellt worden war. Seine akzentfreie Aussprache identifizierte ihn als Deutschen.
Lensing hatte ja erzählt, daß auch eine Abordnung der deutschen Bundesbahn nach Ascona gekommen war, um das große Ereignis zu feiern. Wahrscheinlich hatten sie es sich etwas anders vorgestellt, dachte Rogler bitter.
Er ging langsam weiter. Sein Blick glitt hilflos über die stromlinienförmigen Flanken des Schnellzuges, und ein sonderbares Gefühl von Unwirklichkeit begann sich in ihm breit zu machen. Er versuchte erst gar nicht zu verstehen, was hier passiert war, und erstaunlicherweise war er nicht einmal besonders erschrocken.
Vielleicht lag es daran, daß der Anblick einfach zu bizarr war, um von einem an Fakten und Logik gewöhnten Polizistengehirn wie dem Roglers auf Anhieb verarbeitet werden zu können. Von jedem anderen wahrscheinlich auch nicht. Der ICE glich tatsächlich ein ganz kleines bißchen dem, als was Lensing ihn bezeichnet hatte: einem Raumschiff auf Schienen. Das futuristische Design und die gedrungene, trotzdem elegante Form weckten Assoziationen von mit Schnelligkeit gepaarter Kraft, und genau das war es auch, was diese Maschine darstellte: das Schnellste und Komfortabelste, was sich jemals auf Schienen bewegt hatte.
Jedenfalls war sie das einmal gewesen. Jetzt...
Nein, es gelang Rogler nicht, mit einem einzelnen Wort zu beschreiben, was diesem Zug zugestoßen war. Er war zerstört, eindeutig, und wenn er bedachte, daß die Katastrophe immerhin das Leben aller seiner Insassen gefordert hatte, so mußte es sich um ein wirklich schlimmes Unglück gehandelt haben. Trotzdem wäre das Wort Zerstörung nicht richtig gewesen, denn der Zug war eigentlich nicht zerstört. Genaugenommen war er nicht einmal wirklich beschädigt. Aber er sah aus, als wäre er geradewegs durch die Hölle gefahren.
Das ehemals silbern funkelnde Metall und die gewölbten Fenster waren blind geworden. Die einst auf Hochglanz polierten Flanken waren grau und unansehnlich; an vielen Stellen war der Lack gerissen und blätterte ab, das Metall, das darunter zum Vorschein kam, rostig. Die blauen, goldenen und weißen Zierstreifen an den Seiten des Zuges, die den Eindruck von Eleganz und Geschwindigkeit noch verstärkt hatten, waren nur noch zu erahnen. Die gesamte elektrische Anlage mußte ausgefallen sein, denn hinter den blind gewordenen, vielfach gesprungenen Scheiben war das geisterhafte Huschen von Taschenlampen und Handscheinwerfern zu erkennen.
»Mein Gott!« flüsterte Rogler. »Was ist hier passiert?«
Es war keine Frage von der Art, auf die er eine Antwort erwartet hätte, und natürlich bekam er auch keine - und selbst wenn, hätte er sie vermutlich nicht einmal gehört. Der Anblick des Zuges erschütterte ihn bis ins Innerste. Er erschreckte ihn nicht, er machte ihm auch keine Angst, aber er weckte etwas in ihm, das schlimmer war als Furcht. Sein Herz schlug plötzlich langsamer, aber so schwer, daß er jeden einzelnen Schlag bis in die Fingerspitzen fühlte, und seine Sinne schienen mit einem Male mit dem Vielfachen ihrer normalen Schärfe zu arbeiten. Er sah, hörte, roch und empfand alles mit einer nie gekannten, schon fast quälenden Intensität.
Und dann, ganz plötzlich, wußte er die Antwort auf seine eigene Frage. Er wußte, was diesem Zug zugestoßen war.
Er war alt.
Es war so deutlich, daß er sich verblüfft fragte, wie er es auch nur eine Sekunde lang hatte übersehen können. Rogler wußte, daß die ICE 2000 der Bundesbahn erst vor einem halben Jahr in Dienst gestellt worden waren, und dieser Zug hier war mit Sicherheit das neueste Modell dieser Serie, wahrscheinlich erst vor ein paar Tagen aus der Fabrik gerollt, um seine Jungfernfahrt durch den Gridone-Tunnel anzutreten. Aber so, wie er hier stand, tot, mit blinden Augen, in einen Panzer aus steinhart verkrustetem Staub eingehüllt und von Rost und Korrosion zerfressen, sah er aus, als wäre er mindestens hundertmal so alt. Was dieses riesige Stahltier getötet hatte, waren keine Terroristen gewesen oder eine Laune der Natur oder des Zufalls, sondern der älteste Feind des Menschen, und zugleich der einzige, den er vielleicht nie würde besiegen können: die Zeit. Brenner und die beiden anderen ließen ihm hinlänglich Zeit, das Unglaubliche zu verarbeiten. Vielleicht war das nicht einmal der einzige Grund, warum sie wie er minutenlang schweigend dastanden und den Zug anstarrten. Obwohl sie schon seit Stunden hier waren, schien der Anblick sie ebenso zu schockieren wie ihn. Es gab Dinge, die jedes Mal aufs neue so schrecklich waren wie beim allerersten Mal, und der Anblick des ICE gehörte dazu.
Schließlich war es Rogler, der als erster seine Lähmung überwand. Während er sich zu den anderen herumdrehte, ließ er seinen Blick rasch und prüfend über ihre Gesichter gleiten. Brenner wirkte schlicht und einfach entsetzt und auf eine Weise erschüttert, die sich ebensowenig wie Roglers eigene Gefühle in Worte fassen ließ. Er hatte Angst. Er war fast verrückt vor Angst; ebenso wie Machen, der vor lauter Nervosität nicht mehr stillstehen konnte und unentwegt von einem Fuß auf den anderen trat. Er hatte eine Rolle Pfefferminzbonbons aus der Tasche genommen und wickelte eines nach dem anderen aus der Silberfolie, ohne sie jedoch in den Mund zu nehmen. Frankes Gesicht schließlich wirkte wie aus Stein gemeißelt, aber das bedeutete keineswegs, daß ihn der Anblick kaltgelassen hätte, sondern allerhöchstens, daß er sich ein wenig besser in der Gewalt hatte als die beiden anderen. Rogler war nicht sicher, ob er ihm dadurch unbedingt sympathischer wurde.